Der gefrorene Rabbi
Gesten einen Berg von Beweisen - zum größten Teil gefälscht, aber leidenschaftlich vertreten - dafür vorlegte, dass der junge Bernie Karp einem Ritualmord zum Opfer gefallen war. Der Junge war gedemütigt und entehrt, zu widernatürlichen Handlungen gezwungen und dann auf grausame Weise abgeschlachtet worden, um sein Blut für weitere satanische Feiern zu verwenden. Um seine Vorwürfe zu untermauern, stützte sich der Staatsanwalt auf Übersetzungen alter zaristischer Urkunden und beschrieb mit wahrem Genuss die schlüpfrigen Details der Umstände, unter denen die Polizei den Rabbi und den Jungen vorgefunden hatte. Eine ganze Reihe von Beamten, die am Tatort gewesen waren, standen bereit, um die Ausführungen des Staatsanwalts zu bekräftigen.
Der Pflichtverteidiger Mr. Frizell, ein aalglatter Winkeladvokat in sich beißenden Karos, der für ein minimales Honorar den Schein wahrte, verwies (ohne großen Nachdruck) darauf, dass die Behauptungen der Anklage seit dem Mittelalter größtenteils widerlegt worden waren und dass sich diese Ritualmordlegenden - hier schien er sich zu widersprechen, weil er eben jenes Phänomen voraussetzte, das er als nicht existent entlarven wollte - stets um nichtjüdische Opfer drehten, da man von einem entsprechenden Gewaltverbrechen eines Juden an einem anderen noch nie gehört hatte. Aber die Fantasie der hinsichtlich ihrer Ignoranz handverlesenen Geschworenen war bereits entfacht, und da der Staatsanwalt in seinen Ausführungen auch überzeugend auf Gelegenheit und Motiv einging und das Ganze mit einer dramatischen Vorführung der Mordwaffe krönte, war das Urteil eine ausgemachte Sache. Rabbi Elieser ben Zephir wurde ungeachtet seines Alters (das niemand so genau kannte) zu lebenslanger Haft verurteilt für eine Tat, die so abscheulich war, dass der ehrenwerte Richter Schuyler Few so tat, als würde er sich den Mund mit einem antiseptischen Spray desinfizieren, nachdem er sie in Worte gefasst hatte.
»Im Namen des Staates Tennessee«, erklärte Judge Few, »ergeht folgendes Urteil: Der Angeklagte Elieser ben Zephir wird für den Rest seines Lebens in die Justizvollzugsanstalt Brushy Mountain verbracht; jeder Anspruch auf eine frühzeitige Entlassung ist ausgeschlossen.« Als man ihm später vorwarf, nicht die Todesstrafe verhängt zu haben, betonte der Richter, dass ein langsamer Tod im Gefängnis grausamer war als eine Hinrichtung in der Gaskammer und dass die Anhänger des Rabbis diese vielleicht genutzt hätten, um einen Märtyrer aus ihm zu machen. Dennoch fanden einige das Urteil zu milde.
Die Verhandlung dauerte nur eine Woche und wurde von einem unerbittlichen Medienzirkus begleitet. Der nüchterne, eichengetäfelte Gerichtssaal war jeden Tag bis auf den letzten Platz besetzt, und die Gerichtsdiener waren vollauf damit beschäftigt, eine Menge zu beruhigen, die manchmal so ungebärdig war wie die Zuschauer bei einer Bärenhatz. Die Presse war ganz in ihrem Element und dröselte den Fall bis ins letzte Detail auf. Die konservativen Blätter sprachen sich entschieden für eine Hinrichtung des Rabbis aus (die schlichtere Journaille regte sogar die Wiederbelebung altehrwürdiger Traditionen im Zusammenhang mit Laternenpfählen und Bäumen an), während die liberalen Zeitungen, die am Ort nicht vertreten waren, über die Femegerichtsatmosphäre spotteten und die Dämonisierung des Rabbis beklagten, aber zugleich einräumten, dass der Angeklagte unter Umständen tatsächlich ein Dämon war. Niemand zog die Schuld des alten Gauners ernsthaft in Zweifel. Die meisten seiner Anhänger distanzierten sich nach dem Mord von ihrem Guru, nur eine Handvoll Getreuer saß auf den Bänken und schwenkte vor dem Gerichtssaal Plakate mit der Aufschrift FREIHEIT FÜR RABBI BEN ZEPHIR. In zahlreichen Interviews äußerten sie phrasenhafte Sentenzen, die die Vermutung nahelegten, dass sie einer Art Gedankenkontrolle unterlagen.
Auch die Familie Karp ließ sich täglich hinter den Tischen der Anwälte auf einer Bank nieder, die über den gesamten Verlauf des Verfahrens für sie reserviert war. Steif saßen Julius und Yetta da, das Gesicht schlaff von dem Bemühen, die richtige Balance zwischen Empörung und Trauer zu wahren. Sie standen immer noch unter Schock von den Ereignissen, die ihren Sohn auf so schreckliche und unzeitige Weise dahingerafft hatten. Fast genauso niedergeschmettert waren sie allerdings - mochte ihnen Gott verzeihen - von dem spektakulären Sturz des Rabbis. Doch dies
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