Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
Vom Netzwerk:
kabbelige See starrte - immer sein meditatives Gleichgewicht zu bewahren.
    Später entdeckte ihn Schmerl erneut im Gewühl der Passagiere, die nach dem langen Eingesperrtsein aus ihren Unterkünften auf dem Zwischendeck geströmt waren, als die verheißene Stadt in Sicht kam. Einige kletterten sogar einen Mast hinauf und verfingen sich in der Takelage wie Käfer in Spinnweben. Alle reckten die Hälse, um einen Blick auf die Freiheitsstatue in ihrer Grünspanrobe und die blitzenden Türme am Fuß von Manhattan Island zu erhaschen, das selbst dahinzuschweben schien wie eine tief liegende Karacke. Alle hielten Ausschau nach New York, nach Amerika, nur nicht der gelassene junge Mann mit dem edlen Gesicht und dem Kammgarnanzug, den er anscheinend nie ablegte. An der Heckreling lehnend, spähte er über den weiten, hellgrünen Ozean, den das Schiff soeben durchquert hatte, als würde ihn das Ziel seiner Reise weniger interessieren als der Ort, von dem er kam. Einsam, seit ihn seine Familie weggeschickt hatte, um der Aushebung zu entgehen (und um ihn aus einer Gemeinde zu entfernen, die sein Verhalten mit zunehmend kritischem Auge betrachtete), beneidete Schmerl Karp den Jüngling um seine Selbstbeherrschung. Da sie ungefähr gleich alt waren, hätte er sich ihm vorstellen können, doch Schmerl wollte sich nicht aufdrängen, außerdem war er wegen seines kleinen Buckels eher schüchtern.
    Der Kutscher ließ die Peitsche knallen, und der Wagen mit dem Sarg setzte sich in Bewegung. Schmerl vermutete, dass die Reserviertheit des jungen Mannes ihren Ursprung in der Trauer um einen geliebten Menschen hatte, der (wie rund ein Dutzend andere) während der Schiffspassage verstorben war. Doch mehr Zeit konnte er nicht erübrigen für Gedanken an Fremde, schließlich musste er sich um sein eigenes Wohlergehen kümmern. Nach den Qualen an Bord drehte sich noch alles vor seinen Augen bei dem Versuch, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und es gelang ihm zunächst nicht, in diesem ohrenbetäubenden Babel das Konzept Terra firma zu erfassen. Nach Wochen der Seekrankheit, in denen er das Gefühl hatte, seine Seele herausgewürgt zu haben, war Schmerl vom Dampfer auf die Dampfbarkasse verfrachtet und auf dem turmbewehrten Ellis Island abgesetzt worden. Dort musste er mehrere Stationen über sich ergehen lassen, auf denen ihn Beamte in jiddischem Kauderwelsch befragten und - mit der Strenge bürokratischer Seraphim bei der Überprüfung seines Namens im Buch des Lebens - seine Antworten mit der Frachtliste abglichen. Ärzte klopften ihm auf die Brust, die Hoden und das verbogene Rückgrat, klappten seine Augenlider nach oben, beschrifteten ihn mit Kreide und versahen ihn mit Papierfähnchen; dann scheuchten sie ihn zurück in die schaukelnde Fähre, wo er kaum zu glauben wagte, dass man ihn nicht in eine Durchgangszelle für unerwünschte Ausländer steckte, sondern ihm die Genehmigung zur Einwanderung ins Goldene Land erteilt hatte - dieses Goldene Land, das ihn nun mit einer Kakofonie aus Verbrennungsmotoren und Hufgetrappel umfing. Doch während die anderen Immigranten nach der Begrüßung durch Verwandte oder landslajt mit ihren Seesäcken und Federbetten in den Schluchten der kaufmännischen Türme verschwunden waren, wankte Schmerl noch immer unentschlossen auf dem Dock zwischen pickenden Meeresvögeln herum.
    Was wusste er denn schon über Amerika, mit Ausnahme der Gerüchte, dass jeder bei seiner Ankunft sogleich zum Millionär wurde, die sich bereits als offensichtlich unwahr erwiesen hatten? Nur ein paar Brocken der Landessprache wie »opn der winder« und »koscheren restoran« waren ihm bekannt; außerdem die Adresse einer Tante und eines Onkels, die nach der Ankündigung seiner baldigen Ankunft einen Brief geschickt hatten, der einem Knurren gleichkam. Außerdem hatte er bereits begriffen, dass auf diesen turbulenten Straßen der Abstand zum Himmel noch größer war als zu Hause in der verarmten und von Pogromen heimgesuchten Ukraine. Darüber hinaus wusste Schmerl wenig und hatte nur eine Reisetasche dabei, die einige Kleidungsstücke und Pläne für Erfindungen ohne praktischen Zweck enthielt. Wahrlich nicht viel, um ein neues Leben anzufangen; doch zugleich hatte er das Gefühl, als er da so am Ufer dieses fremden Landes stand, sein altes Leben bereits verloren zu haben. Wenngleich er sich in Schpinsk äußerst unbeliebt gemacht hatte, war Schmerl von Natur aus eher zurückhaltend und davon überzeugt, dass er als Mensch

Weitere Kostenlose Bücher