Der gefrorene Rabbi
mürrischen Groll gegen ihn wie auch gegen seinen gierigen Vater, der sich durch seine Komplizenschaft schuldig gemacht hatte. Bernie sah nicht einmal mehr fern, aus Angst, auf dem Bildschirm die runzlige Visage des Rabbis zu erblicken, der seinem Publikum mithilfe eines Teleprompters gegen einen kleinen täglichen Unkostenbeitrag die Weisheit der Jahrtausende verhieß. All dies hatte den Jungen fast bis zur völligen Entfremdung verbittert, doch seine jüngsten transzendentalen Erfahrungen hatten ihn versöhnlicher gestimmt. Und so marschierte er im ersten frischen Oktoberwind die ungefähr eineinhalb Kilometer von seiner Schule zur Rebel Yell Shopping Plaza.
Das Haus der Erleuchtung, in dessen Schaufenster ein sechszackiger Stern baumelte wie eine Neontaschenuhr, war eingeklemmt zwischen dem chinesichen Imbiss Uncle Ming’s und Laylas Pediküre. Zum harmonischen Klang eines Glockenspiels öffnete Bernie die Tür und trat in ein Vestibül, das zu gleichen Teilen Souvenirladen und Wartezimmer war - und etwas von einer karpatischen Lehranstalt hatte. An den Wänden hingen eingerahmte Empfehlungsschreiben von zufriedenen Kunden, was Bernie wunderte. Konnte der Laden in der kurzen Zeit seiner Existenz überhaupt schon Kunden zufriedengestellt haben? Die Empfehlungsschreiben waren flankiert von Schaubildern der sefirot, aus denen sich der kabbalistische Lebensbaum zusammensetzt und die aussahen wie eine Aufstellung bemalter Tinkertoys. Über den von eingeschweißten Editionen des sohar in Saffianleder durchhängenden Regalen prangte ein Airbrush-Porträt von Rabbi ben Zephir, auf dem bronzenen Schild darunter stand schlicht »Der rebbe«. In einem Glasschaukasten wurde eine Auswahl an judaischem Kitsch präsentiert: chamsas und Amulette aus Keramik mit Etiketten, die ihre okkulten Kräfte beschrieben, Spulen mit roten Bändern zum Schutz gegen Dämonen, Sammelbilder und Trinkbecher mit Heldenmotiven der Kabbala - alles mit Schildern versehen, die sie zu überhöhten Verkaufspreisen feilboten. Auch die üblichen Religionsrequisiten fehlten nicht: Gebetsmäntel und kippot, Phylakterien, die an Haken baumelten wie Gauchobolas, jeweils für astronomische Beträge zu erwerben. Auf einem Hocker hinter dem Schaukasten saß eine attraktive Dame in mittleren Jahren. Ihre eisengrauen Haarsträhnen lugten unter einem lavendelfarbenem Turban hervor, und ihre matronenhafte Figur war in einen passenden Kaftan gehüllt wie in eine vestalische Robe. Bei Bernies Eintritt blickte sie von einer Bilderbuchausgabe der Geschichten des Baal Schem Tov auf.
»Kann ich was für dich tun, Schätzchen?« Mit einem affektierten Lächeln schielte sie über ihre Bifokalbrille. Offenbar ging sie davon aus, dass er sich in der Tür geirrt hatte. Aus vier Lautsprechern drang orientalische Fahrstuhlmusik.
Bernie, dem das T-Shirt unter der Windjacke herunterhing wie ein Rock, war plötzlich verlegen und zögerte. Irgendwas an dem Laden stimmte nicht. »Ich möchte den Rabbi sprechen«, murmelte er schließlich.
In einem Ton honigsüßer Herablassung teilte ihm die Frau mit, dass der rebbe leider gerade mitten in einer Sitzung zur Verwandlung des Selbst durch dynamische Ruhe steckte. »Möchtest du vielleicht so lange warten?«
Die Antwort war nein, aber Bernie hielt den Mund und trat weiter nervös von einem Bein aufs andere. Hinter einem Paisleyvorhang war die verstärkte Stimme des Meisters zu hören, die den Gläubigen Worte und Gleichnisse predigte, die der Junge bereits auswendig konnte. Er nannte die Bedeutung der vier Sprossen der Jakobsleiter, die vier Gesichter von Ezechiels Engeln und die Pflicht der Schüler, sich auf die Buchstaben der Thora zu konzentrieren, bis sie wie schwarzes Feuer auf weißem Hintergrund erschienen; manche Worte mussten gebrüllt werden wie von einem Löwen, andere gegurrt wie von einer Taube. Der Rabbi selbst krächzte wie ein asthmatischer Frosch: »Seid ihr still wie Lots Frau, als mit Salz von dem Toten Meer sie wurde überzogen; strahlt ihr wie Moses sein ponem, als er is herabgekommen von Sinai …« Es waren die gleichen Visualisierungslektionen, die der Rabbi Bernie so beiläufig erteilt hatte. Aber jetzt legte er einen Nachdruck hinein, der (ob ernst oder gespielt) den Jungen neidisch machte. Aber warum, da er doch wusste, dass Elieser ben Zephir ein echter zadik war, dessen Aufgabe es war, als Gottes Vermittler, als Verbindung zwischen Himmel und Erde zu wirken? Eigentlich hätte Bernie sich schämen
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