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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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zwei Frauen gestützt, stieg der Rabbi vom Podium und war sogleich von weiteren Verehrerinnen umringt, von denen einige Weihgaben in Form von hausgemachtem Erdnusskrokant und Auflaufgerichten dabeihatten. Der rebbe quittierte ihre dankbaren Gunstbeweise mit intimen Berührungen. Der einen streichelte er die Schulter, die andere kniff er in die Wange. Sein besonderes Augenmerk galt dabei den jüngeren Elevinnen, wie der Kleinen in dem roten Lycrabody, die den Heiligen bat, ihre Aura zu lesen.
    »Warst du in deinem letzten Leben eine Blume«, krächzte der alte Elieser, während er ihr die knochigen Finger an die Stirn drückte, »die woß gepflückt hot der Prophet Elijah, gesegnet sein Name, und sich gesteckt in das Knopfloch.«
    Das Mädchen wurde so rot wie ihr Kostüm.
    Seine übliche Gehemmtheit überwindend, begrüßte Bernie den Rabbi in der Hoffnung, dass der Meister beim Anblick seines vormaligen Adepten all die lästigen Schmeichlerinnen abschütteln würde. Doch Rabbi Elieser nahm die Gegenwart des Jungen nur mit einem Nicken zur Kenntnis und wandte sich wieder den schwärmerischen Damen zu.
    »Rabbi.« Bernie zog nur ungern die Aufmerksamkeit auf sich, aber er war überzeugt, dass angesichts seiner Notlage eine Dringlichkeitsaudienz erforderlich war. »Rabbi, ich brauche einen Rat.«
    Der Rabbi warf einen Blick über die Schulter. »Sollst du dir anziehen a lange Hose, warum nicht.« Nach kurzer Überlegung fügte er hinzu: »Vielleicht auch schneiden die Haare.« Sein Sarkasmus löste ein Kichern unter seinen Verehrerinnen aus, die ihn einen frechen Schlingel schalten. Mit brennenden Wangen stand Bernie wie angewurzelt da, als sein Mentor auf einer Welle von Anhängerinnen zu einer als PRIVAT gekennzeichneten Tür am hinteren Ende des Allerheiligsten getragen wurde. Sie drückten seine käsigen Konturen (die eingedrückt blieben) und zausten sein schütteres Haar, diese Damen, die Bernie wie Teufelinnen vorkamen, die einen Heiligen heimsuchten - allerdings schien dieser ihre Liebkosungen durchaus zu genießen.
    Bernie war erstaunt, wie ihm immer wieder in bestimmten Augenblicken Sprüche der Weisen einfielen. In diesem Fall war es die Deutung Rabbi Zadoks zum Deuteronomium 4, 5: »So wie ich habe gelehrt ohne Lohn, musst auch du lehren ohne Lohn.« Da Bernie es für seine Aufgabe hielt, Rabbi Elieser an dieses Patriarchengebot zu erinnern, lief er dem Heiligen nach.
    »Jingl«, rief der Rabbi heiter inmitten der Frauenschar, »bezahlen sie mich bloß für die Zeit, woß ich verliere und könnte nehmen, um zu verdienen einen Lebensunterhalt. Wie steht geschrieben: ›Die Thora is doß beste Handelsgut.‹« Dann versicherte er dem Jungen, dass er ihn fragen würde, falls er je wieder seinen Rat benötigte, und verschwand mit seinem Gefolge durch die Tür.
    Gedemütigt und mit hängenden Schultern schlich Bernie hinaus durch den Eingang des Meditationszentrums. Doch auf dem Heimweg bemerkte er, immer noch geknickt, an einer Hauswand den Schatten einer Taglilie, der geformt war wie eine Narrenkappe, und dieses Bild warf ihn sogleich ins Reich der Erhabenheit.

1907
    A ls die Fähre von Ellis Island Schmerl Karpinski (dessen Name jüngst von einem überlasteten Zollbeamten zu Karp verkürzt worden war) an der betriebsamen Werft absetzte, machte er die Augen zu, um die Reize abzuwehren, die sein Gehirn zu überfluten drohten. Aber die hastenden Gruppen, in die sich seine Miteinwanderer bereits auflösten, das Getöse von Pferdekarren und das Rattern von den Bahnschienen über ihm bestürmten seine Ohren und störten den Frieden seines Laboratoriums in Schpinsk, das er hinter geschlossenen Lidern wiederauferstehen ließ. Nachdem er sie wieder geöffnet hatte, wartete er darauf, dass sein Blick auf etwas fiel, was er begreifen konnte, und sah den jungen Mann vom Schiff neben dem Kutscher eines Rollwagens sitzen, auf dem ein wurmzerfressener Holzsarg stand. Diesen Jüngling hatte Schmerl zuvor durch Wellen der Übelkeit wahrgenommen, während er sich an das spröde Gitter seiner Koje im Zwischendeck klammerte, um nicht in das Gebräu aus Erbrochenem und Schmutzwasser zu seinen Füßen zu fallen. Die Luft unter Deck war stickig, weil dort eine Vielzahl privater Verrichtungen in aller Öffentlichkeit stattfand. Doch obwohl fast das gesamte Zwischendeck im Rhythmus der stampfenden Kolben der Kaiser Wilhelm der Große stöhnte, schien der junge Mann - der auf einem Fass hockend durch ein Bullauge hinaus auf die

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