Der gefrorene Rabbi
erst noch geboren werden musste.
Eine Zeit lang war er ein mustergültiger jeschiwe-bocher gewesen, der seinen Vater, den Schrotthändler Reb Todrus Karpinski, seit der bar mizwe gehorsam zu den Morgen- und Abendgebeten und zum vorgeschriebenen öligen Bad am schabeß begleitete. Schmerl war bewandert in der Heiligen Schrift, alle sechshundertdreizehn mizwot waren ihm geläufig, und er konnte haarspalterische Unterschiede zwischen dem babylonischen und dem Jerusalemer Talmud zitieren. Besonders gern vertiefte er sich in knifflige halachische Rätsel wie: Bis zu welchem Grad ist ein für das Pessachfest gereinigtes Haus entweiht, wenn eine Maus eine Krume chomez einschleppt? In seiner Pubertät jedoch, als ihm die Scheuermann-Krankheit das Rückgrat verbog und seine Kameraden anfingen, sich über ihn lustig zu machen, zog sich Schmerl immer mehr zurück. Die nicht unbedingt auf den Rücken beschränkten körperlichen Schmerzen versuchte er durch besonders tiefe Frömmigkeit zu überwinden. Diese äußerte sich unter anderem darin, dass er in der ihm eigenen gebückten Haltung allein zwischen den moosbewachsenen Steinen auf dem Friedhof umherwanderte. Auch beim Wasserrad der Sägemühle hielt er sich gern auf, besessen von der Vorstellung, dass das Rad die Welt durch die Zeit beförderte. Dann musste er den Drang unterdrücken, einen Axtstiel in das Triebwerk zu rammen, das das Rad drehte, um seine Theorie zu überprüfen und seinen Ort unter Umständen vor weiterem Altern zu bewahren.
Obgleich ihn stets eine gesunde Achtung vor den überlieferten religiösen Verboten erfüllt hatte, begann Schmerl, sich mit mystischen und alchemistischen Schriften zu befassen. Unbemerkt von anderen wälzte er in einem Winkel des modrigen Lehrhauses Bücher, die Familienvätern über vierzig vorbehalten waren. Rastlos ob der dornigen Dialektik des pilpul, wohnte er dem dritten Sabbatmahl heimlich im Haus eines chassidischen rebbe am Ort bei, ein abstoßender alter Kerl, dessen Bart mit gebackenen Graupen besprenkelt war. In seiner Predigt erklärte der rebbe: »Is keine Redensart, Gottes Sehnsucht nach Seinem weiblichen Aspekt, Seiner heiligen schechina, woß is im Exil zusammen mit den Israeliten seit der Zerstörung des Tempels.« Und im Hinblick auf dieses fortgesetzte Drama mahnte der Weise seine Jünger, den schadchn, den Ehestifter, zu spielen für die Wiedervereinigung von haschem mit Seiner besseren Hälfte. Erfüllt von dem Wunsch, an diesem kosmischen Liebesabenteuer teilzuhaben, begab sich Schmerl auf die Suche nach Möglichkeiten, die Wiedervereinigung aktiv voranzutreiben, da diese die Diaspora beenden und die gefallene Erde auf die Höhe des himmlischen Jerusalem heben musste.
Mithilfe eines Bandes, der den Titel sefer schekel ha-kodesch trug und aus der Feder des mittelalterlichen Kabbalisten Moses de Leon stammte, machte er sich daran, die Spinnweben in dem baufälligen alten Lagerschuppen hinter dem Trödelladen seines Vaters zu entfernen. Statt der geforderten Tiegel, Kolben und Schnabelvasen suchte er aus den Gegenständen, die selbst für den Schrottladen zu schäbig waren, eine Reihe geflickter Töpfe und staubiger Flaschen aus. Als er zerbrochene Ziegel zu einem umgedrehten Trichter aufschichtete, um einen offenen Herd nachzubilden, entdeckte er ein bisher unbekanntes gestalterisches Talent an sich.
Rohstoffe wie Kupfer und Zink waren reichlich vorhanden, doch wegen der Substanzen, die er als Katalysatoren für seine Verwandlungsprozesse benötigte, wandte er sich an den Barbier und Chemiker Avigdor den Abtrünnigen. Der Freidenker betrachtete die Naivität der Gemeinde mit zynischer Herablassung, hielt in seinen Regalen aber dennoch Krüge mit Blutegeln und Quacksalberarzneien bereit, um seine abergläubischen Kunden bei Laune zu halten. So gelassen der fuchsgesichtige Apotheker (von dem bekannt war, dass er sogar Schalentiere aß) sonst auch die seltsamsten Anfragen entgegennahm, ein jeschiwe-bocher, der sich nach Quecksilber, Magnetpulver und Zinnober, ja sogar raren Kräutern wie Hypericum erkundigte, war selbst für ihn etwas völlig Neues. Auf die Frage, was er mit diesen Dingen vorhabe, war Schmerl mit einer Lügengeschichte über einen Chemiekurs vorbereitet, eine Beschäftigung, die der Freidenker bestimmt gutheißen würde. Auf jeden Fall war diese Ausrede einfacher, als zu erklären, dass er in einem Mikrokosmos Prozesse durchführen wollte, die das Universum dann vielleicht im Großen
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