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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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nachvollziehen würde. Natürlich ließ sich Avigdor nicht hinters Licht führen, aber da er witterte, dass der Junge etwas im Schilde führte (und neugierig war, wie die Sache ausgehen würde), akzeptierte er ein verrostetes Bügeleisen und das Skelett eines Sonnenschirms im Austausch gegen die gewünschten Ingredienzien.
    »Im Interesse des Fortschritts und der weltlichen Bildung.« Der Apotheker setzte ein schiefes Lächeln auf.
    Natürlich hätte Schmerl auch einfach mit Gebeten einen Sinneswandel erflehen können, wie es die Juden seit Generationen getan hatten. Doch in hitzigem Wettstreit mit seiner fantastischen Natur lag ein praktisches Temperament, das sich gegen eine scharfe Trennung zwischen den Bereichen des Wundersamen und des rein Technischen sträubte. Und nun war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen: Die Juden aus Schpinsk und infolgedessen die gesamte Bevölkerung im Ansiedlungsrayon bedurften dringend der Erlösung; es war zwingend erforderlich, dass sich ein leidenschaftlicher junger Idealist zu heroischem Handeln aufschwang. Wo er auch hinblickte, sah Schmerl Männer und Frauen, im Vergleich zu denen sein eigenes Leid unbedeutend war. Es gab Jungen in seinem Alter, die sich Finger oder Zehen abgehackt, die Lauge getrunken und sich innerlich verätzt hatten, um der Einberufung zu entgehen; alte Männer, die als Kinder von den Häschern des Zaren verschleppt worden und Jahrzehnte später wie hungrige Geister aus dessen Armee zurückgekehrt waren. Unterernährte Säuglinge wimmerten, während ihre Mütter verrückt wurden von dem Ungeziefer, das in ihren schejtlß herumkroch. Jahrhunderte der Verfolgung und Erniedrigung hatten die Juden physisch und moralisch ausgezehrt, und all ihre Gebete hatten nichts gefruchtet. Jetzt brauchte es einen jichud, eine Conjunctio, die Vereinigung von Himmel und Erde, um die Juden von Schpinsk in eine kräftige und glückselige Gattung zu verwandeln, mit einer Konstitution, so robust wie die der russischen Muschiks.
    Schmerls erste Versuche waren wenig verheißungsvoll. Als er sich daranmachte, in einem verbeulten Samowar aus einer Mischung aus zermahlenem Antimon und Hundedreck die fünfte Essenz, das Lebenselixier, zu destillieren, rieselte statt-dessen eine ekelhafte graue Flüssigkeit heraus, in der eine Art Halbmonde schwamm. Nach einem vorsichtigen Schluck übergab er sich und wartete danach vergebens, dass sich seine Wirbelsäule begradigte und sein Verstand zu grenzenloser Hellsicht fand. Seine Enttäuschung wurde begleitet von einem Schwindel und einer Schwäche in den Knien, die nachgaben, bis er zuletzt wie ein Häufchen Elend auf dem kalten Lehmboden des Schuppens lag.
    So fand Todrus, der ein Rumoren in seinem Lager gehört hatte und nachsehen wollte, seinen ältesten Sohn vor. Angesichts einer Schar von Söhnen, die so groß war, dass sie längst den Überblick verloren hatten, waren der Schrotthändler und seine fußlahme Gattin Chana Bindl meistens so sehr damit beschäftigt, über die Runden zu kommen, dass sie sich nicht auch noch um die Possen ihrer Sprösslinge kümmern konnten. Todrus war ein gewitzter Mensch, der günstige Gelegenheiten sofort erkannte. Mit einem Blick erfasste er den Zustand seines Sohnes, den Samowar mit dem Kupferrohr auf dem Herd und den Krug mit trüber Flüssigkeit auf dem Amboss. Seine Nase zuckte bei dem Geruch, er tauchte den kleinen Finger ein und tupfte sich einen Tropfen auf die Zunge. Daraufhin hob er den Krug, um ihn in einem Zug zu leeren, und erklärte Schmerls Elixier mit feurigem Atem zu einem wirklich brauchbaren Schnaps: »Batamt!« Er versetzte dem Jungen eine Kopfnuss, um ihn für sein frevelhaftes Treiben zu bestrafen, dann befahl er ihm, sogleich mit der fassweisen Herstellung seines Tranks zu beginnen. Später schleppte Todrus noch einen angesäuselten Rabbi an, der die Destillerie segnete. Dies war der Auftakt zu Schmerls Versklavung in der Schwarzbrennerei seines Vaters, mit deren Erzeugnissen dieser seinen Trödelladen in eine Taverne verwandelte. Allerdings war der Erfolg des Unternehmens nur von kurzer Dauer, da das Höllengebräu seines Sohns nachteilige Nebenwirkungen wie vorübergehende Blindheit mit sich brachte.
    In der Zwischenzeit setzte Schmerl seine Experimente fort, deren Ergebnisse allerdings unbefriedigend blieben. Er selbst hätte lieber allein gearbeitet, doch seine Bemühungen waren bereits zum beliebten Dorfgespräch geworden, und er sah sich oft umringt von neugierigen

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