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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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bemerken.
    Gerade als der Arzt den bal-agole wegschickte (der beim Betasten seines Geschlechtsteils gefurzt hatte wie ein Pferd) und Max mit einem gummibedeckten Finger heranwinkte, entstand in der nächsten Reihe Unruhe. Selbst in dem brandungsartigen Lärm der Halle waren laute Stimmen zu hören, die um Hilfe riefen, und genau in diesem Augenblick stürzte der benachbarte Paravent um und stieß auch den von Max um wie einen Dominostein. Darunter kam ein Schwarm von Beamten zum Vorschein, die um eine hingestreckte Frau knieten. Diese trug trotz der Hitze ein Kopftuch und mehrere Rockschichten und sah aus wie ein vom Wind davongeblasener geöffneter Regenschirm, als sie sich in einem Anfall krümmte. Von ihren Lippen triefte gelber Speichel, und ihre verdrehten Augen waren leer wie gekochte Eier. Mit einem Seufzer stand Max’ Arzt gemächlich auf und schlenderte hinüber, um seinen Kollegen zu helfen, von denen einer zu verhindern suchte, dass die Frau ihre Zunge verschluckte. Nach dem Verschwinden des Doktors nahm der für ihn zuständige Vertreter der HIAS augenzwinkernd ein Stück Kreide aus der Schachtel neben dem Hocker und markierte damit Max’ Ärmel. In seiner Verwirrung blieb Max völlig reglos, und der Mann musste ihn grob am Jackettaufschlag vorwärtszerren, ehe er den nächsten Wartenden herbeiwinkte. Mit zitternden Knien schob sich Max durch ein Drehkreuz zurück in den lärmenden Saal, vorbei an den Quarantänekäfigen mit den Männern und Frauen, die die Untersuchung nicht bestanden hatten.
    Wiedervereint mit dem Rabbi und abermals an Bord der Barkasse, gestattete er sich zum ersten Mal, die wolkenverhangene, hoch aufragende Stadt wahrzunehmen. Jetzt war das Schlimmste sicher vorbei. Dieser Optimismus, gegen den auch Jochebed ausnahmsweise keinen Einwand erhob, schien berechtigt, denn von nun an fügte sich eins zum anderen. Pisgat hatte Max versprochen, Vorkehrungen treffen zu lassen, und er hielt Wort. Der unbewegt dreinblickende Agent des Finanziers (dessen Name dem Schmuggler nicht über die Lippen kommen durfte) war zum Dock am North River gekommen, um sich mit ihm im sirupdicken Sonnenschein des Nachmittags zu treffen. Nachdem er ihn an dem Holzsarg erkannt hatte, neben dem er stand, schenkte der Mann dem Neuankömmling kaum mehr als ein Nicken, ehe er zwei Gepäckträger damit beauftragte, den Schrein eilends in einen wartenden Wagen zu laden. Völlig am Ende seiner Kräfte, war Max damit zufrieden, selbst in den Wagen zu klettern und sich seinem schweigsamen Begleiter anzuvertrauen. Natürlich war viel zu sehen, denn überall wurden von Bord gehende Einwanderer umringt von Verwandten oder Hochstaplern, die sich als solche ausgaben, und von Werbern, die billige Arbeitskräfte für Ausbeuterbetriebe suchten. Es gab Passagiere auf Busdächern, die die Hüte abnehmen mussten, um unter den Stützbalken der Hochbahn durchzukommen, Pavillons, die Fußgänger in donnernde Katakomben unter der Erde einluden, einen gotischen Turm, an dessen Wand eine fünfzehn Stockwerke hohe Dame im Badekostüm tollte. Doch Max hielt die Augen lieber nach vorn gerichtet, auf ihre Weise genauso mit Scheuklappen versehen wie die des Gauls vor dem Wagen, den man jetzt für einen Leichenwagen halten konnte. Die Straßen von Amerika, so befand er, konnten ihm keine Ablenkung bieten, solange er noch nicht zur Besinnung gekommen war.
    Das Ice Castle von Gebirtig & Son an der Canal Street war - ob nun mit den Zinnentürmchen und Fassadengalerien oder ohne - eine wichtige Stütze für Pisgats Überseegeschäft, und seine zwei Etablissements bildeten gewissermaßen die Klammer um Max’ Reise. Sicher war der hiesige Bau imposanter, umfasste er doch der Breite nach einen ganzen Straßenzug. Auf der zerfurchten Straße wartete eine ganze Flotte von Lieferwagen, die von Maultieren gezogen wurden, und ein Heer von Arbeitern rollte Sack- und Schubkarren über eine Rampe durch das breite Tor der Lagerhalle. Kaum hatte Max die Schwelle des Ice Castle überschritten und war vom glühenden tammus in den frostigen schevat gelangt, entspannte er sich in dem kühlen, aus seinem früheren Leben vertrauten Klima. Im chromgrauen Licht fuhren Aufzüge mit Lachsballen und Artischockenpyramiden hinauf in die oberen Geschosse, wo die Fracht auf Schlitten befördert und in Nischen gelagert wurde, die wie Schreine in die gefrorenen Wälle gemeißelt waren. Max, dessen Wissen sich auf die von Jochebed heimlich verschlungenen jiddischen Romane

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