Der gefrorene Rabbi
kuriosen Eisgestalt? Überhaupt, seit er vorübergehend von dieser schweren Bürde befreit war, hatte Max das Gefühl, seine Aufgabe erfüllt zu haben. Was sollte ihn also daran hindern (außer Pisgats Drohungen, und Pisgat war weit weg), mit dem Geld ins Innere des Landes zu verschwinden, wo er damit vielleicht ein Königreich erwerben und über einen Stamm dankbarer Wilder herrschen konnte? Und was hatte er denn für Alternativen? Wahrscheinlich musste er bei einem Wohlfahrtsverein ein paar Dollar erbetteln, um ein Mauerloch mieten zu können, und eine Arbeit im Lumpengewerbe annehmen - der Branche, in der alle Greenhorns anfingen, wie er erfahren hatte. Und dann musste er sein Leben lang mit einem Hungerlohn auskommen. Ein Schmuggler war er ja bereits, warum also nicht auch ein Dieb? Doch weil er immer noch mit seiner Selbstfindung beschäftigt war, entschied er (gedrängt von Jochebed), dass Max Feinschmeker ein Mann war, der zu seinem Wort stand. Außerdem wollte er dieses nervenaufreivbende Kapitel endlich beenden.
Er hielt an der Ecke einer breiten Straße, die verstopft war mit Marktbuden, Karren mit aufgetürmtem Blechgeschirr, festgebundenen und herumflatternden Gänsen, Tischen voller Brillen, Filzpantoffeln, Zelluloidknöpfen und Eckenkragen wie ein Nest von Albinoschmetterlingen. Überall im Rinnstein lag Abfall und erzeugte einen Morast, durch den Geschäftsfrauen mit schweren Schuhen diebische Bengel jagten, die unter den Bäuchen von völlig erschöpften Fuhrgäulen durchsausten. Von jeder Feuertreppe hing der zusammengeklappte Kadaver einer Matratze zum Lüften, über jedem Schaufenster ein illustriertes Plakat mit einer riesigen Schere oder einem Backenzahn und einem Text in heiliger oder unheiliger Sprache.
Als er nach links und rechts spähte, erkannte Max, dass er, tief versunken in seine Gedanken, ganz die Wegbeschreibung der Gebirtigs vergessen hatte, falls diese überhaupt gestimmt hatte. Auf jeden Fall hatte er keine Ahnung, wo er sich befand. Alle Menschen um ihn herum waren in Bewegung, als würden sie verzweifelt nach etwas Verlorenem suchen oder wären zumindest darauf aus, ihren nächsten Kauf oder Verkauf unter Dach und Fach zu bringen. Alle mit Ausnahme des Burschen in Golfkappe und geflickten Knickerbockern, der dort drüben in der Tür einer Bäckerei lehnte. Hatte Max diese Gestalt nicht schon einige Straßenzüge vorher in einer anderen Tür gesehen? Oder war es eine halbe Welt entfernt? Denn obwohl jeder Vergleich mit dem Balut unangebracht war, hätten die Gesichter in diesem wilden Gewühl gut und gerne jene sein können, an die er sich aus Jochebeds Elendsviertel erinnerte. Bis auf das dreckige Automobil und den Kanaldeckel über der Untergrundbahn, der klapperte wie eine sich drehende Münze, hatte es den Anschein, als hätte er die weite Reise gemacht, nur um wieder am Ausgangspunkt zu landen.
Gegen Jochebeds Rat näherte sich Max dem Herumlungerer und atmete das Aroma von gebackenem schtrudl ein, das ihn an seinen Hunger erinnerte. »Sajt mojchl, rejdstu jiddisch?«
»Was tät nehmen mich für eine andere Muttersprache?« Das breite Grinsen des Burschen drohte die Pusteln auf seinen flaumigen Wangen zum Platzen zu bringen.
Mit einem unterdrückten Schaudern fragte ihn Max nach dem Weg bitte zu dem Western Union. Sogleich hüpfte der Bursche vom Treppenabsatz auf das Fischgrätpflaster und fasste Max am Arm, um ihn in südliche Richtung zu dirigieren. Doch kaum hatte er das getan, als ein anderer, kräftigerer junger Kerl, unter dessen Schirmmütze ein Bussardzinken hervorragte, Max von hinten so heftig rammte, dass dieser sich um hundertachtzig Grad drehte wie eine Kompassnadel.
»Kloz!«, rief Max’ neuer Bekannter dem Grobian nach, der ungerührt durch den Strom von Fußgängern weiterstapfte. Er ließ Max los und zupfte mit übertriebener Geste dessen verrutschtes Jackett zurecht. Nach einer ziemlich rätselhaften Wegbeschreibung (»Musst du abbiegen links bei dem Purim und dann gehen durch das Tal der verdorrten Gebeine«) knallte er die Hacken zusammen, drehte sich um und stürzte sich wie der andere ins Marktgetümmel. Aus sicherer Entfernung warf er Max mit schallendem Gelächter ein Sprichwort zu: »Ejner hot dem bajtl, der zwejte hot doß gelt.«
Noch bevor er in seine Tasche blickte, wusste Max, dass der Umschlag mit dem Geld verschwunden war.
Außerdem wurde ihm klar, wie es um ihn bestellt war: hungrig, erschöpft, ein gezeichneter Mann in einem fremden
Weitere Kostenlose Bücher