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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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beschränkte, hatte das ehrfürchtige Gefühl, ein Archiv aus Eis betreten zu haben. Trotz seiner Erschöpfung war er froh, sich hinter diesen gruftartigen Mauern zu befinden, von denen Sägemehl rieselte wie Sand aus tausend Stundengläsern; er war froh, hier sein zu können wegen eines Geschäfts, nach dessen Abschluss er gänzlich auf sich allein gestellt sein würde.
    Der Sarg wurde aufrecht auf einem Handkarren bis ins innerste Sanctum des Gebäudes gerollt, in einen Raum mit Kiefernboden, wo Käselaibe so groß wie Mühlsteine, Bierfässer mit Zapfhähnen aus Elfenbein und verschiedenste importierte Delikatessen lagerten. Dort hießen die Besitzer, Gebirtig junior und senior, ihre Gäste willkommen. Beide waren wohlgenährte Bürger, trugen die gleichen gestreiften Hosenträger und hatten fette, von einem selbstgefälligen Grinsen umrankte Zigarren zwischen den Zähnen. Zufrieden überließen sie dem Agenten des Finanziers das Feld. Auf sein Kommando hin wurde die grüne Mammutpastille aus Eis samt ihrem schlummernden Inhaber von Arbeitern mit einer Winde aus ihrem Kasten gehievt. Max hielt den Atem an, als der tropfende Block in einer Tauschlinge baumelte und nach links und rechts pendelte wie die Schalen einer Waage. Dann wurden die in Flanell gehüllten, erstaunlich frisch riechenden Kissen aus Fischrogen aus dem Sarg genommen und auf einer Fleischerplatte abgesetzt. Danach wurde der Block zum Glück wieder in seinen Behälter gehoben. Doch was Max noch mehr beunruhigte als die öffentliche Zurschaustellung des eisumschlossenen rebbe, war der gierige Blick, mit dem die beiden Gebirtigs diesen musterten.
    Aus dem Aufschlag seines Cutaway zückte der Agent nun einen winzigen Silberlöffel, mit dem er die Ware kostete. Er kaute mit methodischer Konzentration, bevor er seine Zufriedenheit bekundete. Dann zog er einen Umschlag aus der Tasche und warf ihn Max hin, der ihn in der Luft auffing wie herabfallendes Manna. Geistesgegenwärtig zählte er das Geld, wie es wohl von ihm erwartet wurde, und spürte die ganze Zeit die Blicke der Besitzer auf sich ruhen. Stammelnd erklärte er, dass alles in Ordnung war, und verbeugte sich mit einem leichten Flattern der rabenschwarzen Locken vor dem Agenten, nachdem er das Geld zurück in den Umschlag gesteckt und diesen in seiner Jackentasche verstaut hatte. Danach wurde der Kaviar auf den Wagen geladen und mit Stroh bedeckt, auf das zur weiteren Tarnung Säcke mit Lebensmitteln und mehrere Flaschen Sauterne drapiert wurden. Ohne ein weiteres Wort verschwand der Agent und überließ Max der Fürsorglichkeit der Gebirtigs, die darauf beharrten, dass er sie Ascher und Zojl nannte.
    Die beiden schienen nicht nur reich entlohnt worden zu sein für ihre Beteiligung an der Weitergabe der Ware, sondern auch gut unterrichtet über Max’ Pläne mit dem vereisten Alten. »Kannst du dich verlassen«, beteuerten sie in anheimelndem aschkenasischem Akzent, »werden wir uns kümmern respektvoll um deinen sejde, bis du kommst zurück von den Begräbnisvorbereitungen.«
    »Muss ich zuerst aufsuchen das Büro von dem Western Union«, verkündete Max, wie es ihm Pisgat eingeschärft hatte (und um jedem Verdacht vorzubeugen, dass er anderes mit dem Geld vorhatte).
    Auch dies hatten die Gebirtigs offenbar vorhergesehen. Sie beschrieben ihm genau den Weg zum Telegrafenamt an der Delancey Street und erklärten ihm, wie er bei der Überweisung des Geldes nach Polen vorzugehen hatte. Mit einem Gefühl, als wären die Banknoten in seiner Tasche eine heiße Kartoffel, die er loswerden musste, brach Max auf und stürzte sich ins Unbekannte. Wie er nun wusste, lag sein Ziel nur wenige Blocks entfernt, aber das Gewühl auf den Straßen der Lower East Side setzte seinen Sinnen zu. Außerdem wurde ihm schmerzlich bewusst, dass er trotz des unrechtmäßig erworbenen Gewinns in seiner Tasche selbst keinen groschn besaß. Immerhin, wenn er das Geld los war, würden ihn seine leeren Taschen vor der Gefahr eines Raubs bewahren.
    Doch ungeachtet seiner Furcht gingen ihm unwillkürlich andere Möglichkeiten durch den Sinn. Nach allem, was Max auf der Reise erduldet hatte, konnte ihm der alte Pisgat da einige wenige Scheine von so einem dicken Bündel missgönnen? Nur so viel, dass er sich durchschlagen konnte, bis er in Amerika ein wenig Fuß gefasst hatte? Sicher würde er nie wieder so viel Geld besitzen, und wie sollte er sich durchbringen, wenn es abgeliefert war, ganz zu schweigen von der Aufbewahrung der

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