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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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Aussehen zu ihrer freundlichen Gesinnung beitrug, so wie dies schon bei den Eisenbahnbeamten und Grenzposten der Fall gewesen war. Und während Jochebed nur Verachtung übrig hatte für die anmutigen Gesichtszüge, die sie mit dem Schmuggler teilte, war sich Max nicht zu schade, sie zu benutzen, wenn es um sein Überleben ging. Natürlich konnte sein Gesicht genauso gut zum Nachteil werden, vor allem im Zwischendeck, wo die Mädchen ständig Vorwände fanden, um sich ihm zu nähern. Auch dies bestärkte ihn in seinem Entschluss, sich nicht zu baden.
    Einmal, als er in den Tiefen des Schiffs eine falsche Abzweigung genommen hatte, stieg er durch eine offene Luke hinab und fand sich in einem Dschungel aus Messing und Blei unter Mechanikern wieder, die zwischen Rohren und Schächten herumturnten. Auf einem mächtigen Kohlehügel schwangen rußverkrustete Arbeiter mit nacktem Oberkörper Schaufeln und fütterten den Schlund eines hustenden Heizkessels, dessen flammende Zunge die Zeiger des Druckmessers in hektische Bewegung versetzte. Gigantische Turbinen jaulten kontrapunktisch zum Geräusch der Schiffsschrauben, die sich durch die unsichtbaren Wellen pflügten. Max stand wie angewurzelt unter den finsteren Blicken der Heizer, die Jochebed das Blut in den Adern gefrieren ließen. Dann richtete sich das Augenmerk der Arbeiter plötzlich auf einen buckligen Einwanderer in einer schäbigen Jacke, der den Hals reckte wie eine Schildkröte aus ihrem Panzer und offenbar gerade von einem Dampfstrahl aus einem zischenden Schieberventil erfasst worden war. In einem Jiddisch, das die Angesprochenen unmöglich verstehen konnten, stellte er Fragen, die er sich anscheinend gleich selbst beantwortete. »Macht es also einen Unterschied für euch, die Vierfachexpansion von dem Doppelschraubenantrieb, woß braucht fünfhundertsechzig Tonnen Kohle am Tag …?« Mit ihren blutunterlaufenen Augen starrten die Heizer den Eindringling unfreundlich an, und Max nutzte die Gelegenheit zum Verschwinden.
    Ein anderes Mal gelangte Max über einen unbekannten Aufgang in ein teppichbelegtes Treppenhaus, das in einen Überfluss mündete, wie er ihn noch nie erblickt hatte. Ohne den westwärts fahrenden Dampfer verlassen zu haben, hatte er einen Palast betreten, in dem Salons und luxuriöse Raucherzimmer an einen großen Saal grenzten, von dessen Decke ein diademartiger Kronleuchter hing. Es gab einen prächtigen Speiseraum mit kunstvoll geschnitzter Täfelung, goldumrahmten Spiegeln, Basreliefs und Buntglas; eine Bibliothek mit einem lodernden Feuer im Marmorkamin und Tiffany-Gaslampen - reiche Verwandte der Sturmlaternen, die in den dunklen Quartieren unten nicht viel mehr als Schatten verbreiteten. Inmitten all diesen Glanzes vermochte Max kaum zu glauben, dass solch ein Ort auf demselben Planeten anzutreffen war wie das Zwischendeck.
    In einem Palmenhaus voller üppiger Orchideen unter einer gewölbten Glaskuppel zeigte ein Mann mit buschigem Haar, aus dessen hochgerollten Smokinghemdsärmeln kräftige Unterarme ragten, Kartentricks vor einem Publikum, das festlich gekleidet auf weißen Rattanstühlen saß. Nachdem der höfliche Beifall verklungen war, erschien eine schmächtige, hühnerbrüstige Frau in rotbraunen Strümpfen mit einer Auswahl an Requisiten. Sie machte sich daran, dem ernsten Zauberkünstler Handfesseln und Zwangsjacke anzulegen, und half ihm in einen Schrankkoffer. Dann wurden Zuschauer gebeten, diesen mit Ketten zu umschlingen. Mit Blicken nach allen Seiten umgab die Assistentin den Koffer mit einem dekorativen Wandschirm und zog sich dahinter zurück, nachdem sie feierlich den Titel der Darbietung angekündigt hatte: »Metamorphose«. Doch schon wenige Sekunden nach ihrem Verschwinden trat der Magier hervor und löste allgemeines Ächzen und lärmenden Applaus aus. Er schlug den Schirm zurück, sperrte die Schlösser auf, entfernte die Ketten, hob den Deckel, und heraus fiel die Assistentin in Zwangsjacke und Handschellen.
    Max war so gebannt von der Vorstellung, dass er völlig vergaß, wie sehr er mit seinem ungepflegten Aufzug in dieser vornehmen Umgebung auffallen musste. Noch hätte er unbemerkt davonhuschen können, doch in diesem Moment deutete eine schmuckbehangene Dame mit Terrassenkinn, die in der letzten Reihe saß, auf ihn und krähte in vollem Alt: »Sie bluten ja!« Da bemerkte er, dass die Feuchtigkeit, die durch den Schritt seiner Hose gedrungen war, einen kleinen roten Tropfen auf dem flaschengrünen

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