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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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Land, der nicht wusste, wohin er sich wenden sollte. Tränen stiegen ihm in die Augen - Jochebeds Tränen natürlich, doch er war es, der sich durch das zwielichtige Viertel streifend nicht überwinden konnte, noch einmal um Rat zu fragen. Wonach hätte er sich auch erkundigen sollen? Nichts anderes schien ihm übrig zu bleiben, als immer weiterzumarschieren, bis er zusammenbrach, und er war wahrlich nicht mehr weit davon entfernt. Das war also das Goldene Land - diese Bierlache in einer Wagenfurche, in der sich das Licht der untergehenden Sonne spiegelte? Auf der anderen Straßenseite spreizte ein Fischkrämer die Kiemen eines Karpfens, bis er einer angriffslustigen Kobra glich; eine ausquartierte, von Bettzeug umwogte Familie zündete auf dem Treppenabsatz ihres alten Heims eine jorzajt-Kerze an.
    Abermals beschlich Max das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein, und dieser Eindruck wurde noch verstärkt, als plötzlich gegenüber der Geschäftssitz der Gebirtigs auftauchte, als hätte sich ein Kreis geschlossen. Immerhin war die Gewissheit, erwartet zu werden, ein kleiner Trost für ihn. Nachdem er durch die gasbeleuchtete Arkade des Ice Castle eingetreten war, fand er die Besitzer in ihrem Büro im Zwischengeschoss hinter aneinandergrenzenden, mit Rechnungen beladenen Schreibtischen. Er fragte sie, ob es möglich sei, seinen sejde vielleicht noch etwas länger einzulagern. »Brauche ich noch ein paar Tage, um zu finden eine Grabstelle …«
    Vater und Sohn tauschten Blicke, dann wandten sie sich an Max, als hätte er den Verstand verloren. »Was redest du von einem gefrorenen Mann?«, wunderte sich Ascher Gebirtig, und auch Zojl war offenbar nicht weit vom Stamm gefallen: »Ajs-krem meint er, verkaufen wir hier, gemacht aus Menschen.« So etwas war ihnen noch nie zu Ohren gekommen.
    Und als Max in seiner Verzweiflung vor ihnen stand, war er fast geneigt zu glauben, dass der Rabbi nur ein Hirngespinst war, das Jochebed unter dem Einfluss ihres meschuggen Vaters ausgebrütet hatte. Die Familie der Frostbissens war immer schon ein ganz eigener Schlag gewesen. Doch da er sich verpflichtet fühlte, diese Farce bis zum Ende mitzuspielen, verlangte er, sogleich ins Sanctum vorgelassen zu werden, und drohte den Besitzern mit der Polizei, falls dort keine Spur von einem verstärkten Holzsarg zu finden war. Mit herzlichem Lachen mahnte ihn Ascher, in seiner Lage den Mund lieber nicht zu voll zu nehmen, während Zojl versicherte, dass sie bei diesem Spiel jederzeit mitgehen und den Einsatz auch noch erhöhen konnten. Obwohl Max eigentlich nicht so recht verstand, wovon Gebirtig junior redete, konnte ihm letztlich nicht entgehen, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als die Geschäftsräume zu verlassen und anderswo Aufmunterung zu suchen.
    Draußen schienen sich Vertrautes und Unvertrautes gegenseitig aufzuheben, und die zahllosen, aus ihren brennofenartigen Mietshäusern fliehenden Menschen zogen unterschiedslos an Max’ Auge vorüber. Schließlich verirrte er sich in eine finstere Gasse unter den Pfeilern des El Train, wo rote Lampen in den Türen schmaler Fachwerkhäuser hingen und Frauen in dunklen Kleidersäcken ihre Fußgelenke zur Schau stellten. Trotz seines jämmerlichen Zustands riefen sie dem hübschen Jungen zu, ihnen nach oben zu folgen, während andere Burschen, Männer und sogar ein nervöser, bärtiger Patriarch mit Gebetsriementasche ihrem Werben folgten. Da fiel Max ein, dass sich Jochebeds Körper auf ähnliche Weise verwenden ließe. Vielleicht war es angesichts seiner Not an der Zeit, die Maskerade zu beenden und die eigene Niederlage zu bekennen: Der Versuch, in die Rolle Max Feinschmekers zu schlüpfen, war gescheitert. Aufgrund seiner Fahrlässigkeit musste Max mit Vergeltungsmaßnahmen seines Auftraggebers rechnen. Welch bessere Tarnung konnte er da zu seinem Schutz annehmen als die des Mädchens, das er mit seiner Tarnung als Mann hatte beschützen wollen? Aber Jochebed wollte nichts davon wissen. So gleichgültig sie ihren eigenen Untergang auch betrachtete, in ihrer Brust keimte noch immer ein Funken Stolz. Max war einzigartig; er hatte keine Vorfahren und konnte ihre Gefühle nicht begreifen. Zwar geriet sie aus Mitleid mit ihm kurz ins Wanken, doch sie schuldete es ihrem Vater, die Aussteuertruhe der Familie mit ihrem bereits schmelzenden Inhalt wiederzuerlangen.

2000
    I rgendwo zwischen Raum und Zeit schwebend, hörte Bernie, wie aus einem Winkel eines fernen Planeten sein Name gerufen

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