Der gefrorene Rabbi
Gedanken Jochebeds, mit der Max so oft uneins war? Doch am Ende wurde die Fahrkarte anerkannt, der Frachtbrief abgestempelt und der Sarg von Gepäckträgern über den Landungssteg in die Eingeweide des Schlingernden Willi gebracht, wie die Mannschaft das riesenhafte Flaggschiff der Hamburg-Amerika-Linie nannte. Nach ihnen kroch Max in den gähnenden Laderaum des Schiffs, um sich zu vergewissern, dass der Rabbi einen guten Platz erhielt zwischen den Reihen hängender und liegender Schafe, den Paletten mit verderblichen Waren und den Kisten mit Champagner brut.
Man teilte ihm eine Koje in der dritten Klasse zu, wo er neben den würgenden Massen in einem Gestank schlief, zu dem auch der in Salo Frostbissens Ausgehanzug schmorende Max Feinschmeker beitrug. Nach zwei Tagen geriet der Dampfer in einen Sturm, und die Passagiere im Zwischendeck, die an den Schotten klebten, wenn sie nicht gegeneinandergeschleudert wurden, erklärten, dass das Schiff an den Schwanz eines Leviathans gebunden sei. Bei schönem Wetter kämpften sie um den Haferschleim, der aus dem Gemeinschaftskessel in ihre Esskübel geschöpft wurde, nur um ihn später auf den Gängen wieder auszuspucken, sodass zwischen den Kojen eine Kloake entstand, in der die Frommen stehend beteten. Abgesehen von dem Verstoß gegen die kaschrut, brachte Max in dieser Umgebung keinen Bissen hinunter. Nur gelegentlich nagte er an einem Stück Obst oder getrocknetem Fisch, das ihm ein schüchternes Mädchen mit starkem Erröten in die Hand drückte. Doch diese Avancen verursachten ihm dasselbe Unwohlsein wie die kleisteräugigen Opfer von Übelkeit und Durchfall, die in der fauligen Luft vergebens nach Sauerstoff schnappten. Die Toiletten waren ein einziger Sumpf, und aus den Duschen kam ein brackiges Rinnsal, das Max ohnehin vermeiden musste, um das Geheimnis seiner Anatomie nicht zu verraten. Jede körperliche Funktion war mit einer lästigen Verstohlenheit verbunden, häufig in Gegenwart von Männern, deren entblößte Geschlechtsteile für das Mädchen in Max’ Kleidern ein Gräuel waren. Daher blieb er so viel wie möglich für sich.
Wenn er nicht versuchte, durch ein Bullauge unter Deck die salzige Brise einzuatmen, leistete er am liebsten dem Rabbi Gesellschaft, und mit der Zeit stellte sich so etwas wie eine schüchterne Verbundenheit mit dem zadik ein. Im polaren Klima des riesigen Kühlraums warf sich Max auf eine Spargelkiste und zitterte in der stickigen Luft der Ammoniakkompressoren, die kaum besser zu atmen war als in der scheol des Zwischendecks. Dennoch bevorzugte er die Einsamkeit, wo er nur selten in seinen Meditationen über eine Vergangenheit gestört wurde, die er hinter sich zu lassen hoffte. Wenn er sich die Kellerwohnung in der Zabludevestraße vorstellte, leer wie eine geplünderte Gruft, drängte es ihn stets, seine neue Identität zu stärken, doch Jochebed zog ihm jedes Mal den Boden unter den Füßen weg. Er dachte über seine Schlafgenossen in der dritten Klasse nach und fragte sich, was sie, abgesehen von der Entwurzelung, mit ihm gemein hatten. Was war aus dem Glauben geworden, der ihn an sein Volk gebunden hatte? Außerdem wunderte er sich über Salo Frostbissen, um dessentwillen seine Tochter Jochebed bereit war, einen hässlichen Hemmschuh um die halbe Welt zu schleppen. Weshalb hatte der Nachtwächter geglaubt, dass der Rabbi (der ohne seine künstliche Konservierung längst zu Aas zerfallen wäre) immer noch irgendwie am Leben war? Auch Jochebed bekannte sich zu dieser Meinung, während Max eine solche Leichtgläubigkeit mit einer Verachtung betrachtete, die, wie sie ihm versicherte, auf Gegenseitigkeit beruhte.
Bei diesen Besuchen musste der Schmuggler Vorsicht walten lassen, da die Passagiere den Laderaum nicht betreten durften. Vor allem Passagiere der dritten Klasse wurden ermahnt, den ihnen zugewiesenen Bereich nicht zu verlassen, weil schon ihre bloße Gegenwart in besseren Kreisen als Beleidigung galt. Aber weil der Weg durch die Eingeweide des Schiffs lang und umständlich war, konnte Max gelegentliche Begegnungen mit Mannschaftsmitgliedern kaum vermeiden. Dann versuchte er, in gebrochenem Deutsch seine verbotene Anwesenheit zu erklären, doch der Zahlmeister oder Matrose, der ihn gerüchteweise bereits als den jungen Burschen mit dem eingefrorenen Verwandten kannte, winkte ihn einfach weiter, ohne ihn zu behelligen. Zunächst konnte sich Max keinen Reim auf ihre Nachsicht machen, doch nach einer Weile begriff er, dass sein
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