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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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wurde.
    »Mr. Karp«, ließ sich die Biologielehrerin Ms. Drinkwater vernehmen. »Bernie Karp.« Sie hatte eine kehlige Stimme, die besonders freche Schüler auch ihr gegenüber nachahmten. »Könnten Sie sozusagen etwas Licht werfen auf den Vorgang der Fotosynthese?«
    An seinem körperlosen Ort waren Bernie viele Dinge bekannt. Er wusste, dass die schi’ur koma, die leiblichen Abmessungen des Schöpfers, eine Höhe von zweihundertsechs-unddreißigtausend Leugen betrug und dass eine Leuge drei Meilen, eine Meile zehntausend Ellen, eine Elle drei Spannen entsprachen und dass eine einzige Spanne die gesamte Welt erfüllte. Er wusste, dass der Himmel voller Fenster war, von denen eines ihm einen flüchtigen Blick auf das Hinterteil der Gottheit gestattet hatte, und dass diese Vision zugleich real und imaginär war. Dieses Paradox ließ sich nicht in eine irdische Zunge übertragen und musste sich bei seinem Wiedereintritt in die Erdatmosphäre auflösen.
    Doch über die Fotosynthese wusste er leider gar nichts, weil er seine Biologiehausaufgaben vernachlässigt hatte, ebenso wie die Vorbereitungen für medizinische Hygiene und die Reparatur von Kleinmotoren, ganz zu schweigen von den Squaredance-Schaubildern, die er für den Sportunterricht hätte studieren müssen. Beim Anblick seines Körpers aus dieser riesigen Entfernung - eine leere Hülle mit Kraushaar in einem blauen Sweatshirt, das Lehrbuch vor ihm aufgeschlagen über einer Miniausgabe von Ginzbergs Die Legenden der Juden - wurde Bernie von Mitleid überwältigt. Er sah den Biologiesaal mit seinem Laborzubehör nicht mehr durch die Linse des Paradieses; er erblickte ihn in all seiner Trostlosigkeit, durchzuckt von unerfüllbaren, zwischen den mucusfarbenen Mauern gefangenen Wünschen. Dieses Mitleid bezeichnete den Moment, in dem seine frei schwebende Essenz wieder Besitz ergriff von Bernie Karps schlaff dasitzendem Körper.
    Im Diesseits, dem olam ha-se, wurde er vom Kichern seiner Klassenkameraden begrüßt, die sich über seine Unachtsamkeit amüsierten. Allerdings sorgte seine plötzliche Wiederbelebung für ein allgemeines Luftanhalten. Kaum war er jedoch zurückgekehrt, spürte er eine schmerzliche Kontraktion, da sich der Kosmos wieder auf die engen Dimensionen seines Schädels beschränkte. Er erinnerte sich noch gut daran, was seine Entrückung ausgelöst hatte: die Aussage, dass die Geschichten der Thora, wie sie in den Legenden wiedergegeben waren, als Anhaltspunkte für das Erkennen der Koordinaten einer gewaltigen verborgenen Welt fungierten. Doch nun war davon nur eine schwammige Abstraktion zurückgeblieben. Und was die Erklärung der Fotosynthese anging, a nechtiker tog, wie der Rabbi gesagt hätte - vergiss es.
    »Wie war noch mal die Frage?« Bernie wollte vor allem Zeit gewinnen.
    Die Lehrerin in ihrer derben Denimkleidung, das Gesicht gebleicht von Kreidestaub, der ihr den Spitznamen Schreckliche Schneefrau eingetragen hatte, verdrehte die Augen, und die Schüler prusteten erneut los. Bernie durchschaute diese Strategie, denn er kannte sie von anderen Lehrern: Sie schlossen sich den Hänseleien gegen Bernie Karp an, um sich bei aufsässigen Klassen lieb Kind zu machen. Die elefantenhafte Ms. Drinkwater, die selbst häufig Zielscheibe des Spotts war, nutzte die Gelegenheit, um einen Teil davon auf Bernie umzulenken. »Fotosynthese«, wiederholte sie. »Das Thema der Experimente, die wir seit einer Woche durchführen. Worum handelt es sich dabei?«
    Er unternahm einen Versuch. »Das hat was mit Chlorophyll zu tun.« Er überlegte. »Oder mit Fluorid? So was, was ins Wasser getan wird, damit man keine Kinder kriegt?« Wieder folgte Gelächter, zum Teil allerdings vorsichtig, denn vielleicht stimmte die Antwort ja doch.
    Ms. Drinkwater bemerkte, dass sie der Klasse zu viel hatte durchgehen lassen. Um wieder die Kontrolle zu erlangen, rief sie einen Lieblingsschüler auf, von dem sie eine korrekte Antwort erwarten konnte. Aber der Schaden war nicht mehr gutzumachen, und die Klasse blieb unfolgsam. Bis zum Klingeln wurden nur noch Zettel herumgereicht und Teile von zerlegten Krebsen durch die Gegend geworfen. Nach dem Ende der Stunde forderte die Lehrerin Bernie auf zu bleiben. Was jetzt kam, wusste er bereits. Sie würde ihre obligatorische Sorge über sein pathologisches Tagträumen zum Ausdruck bringen und ihn wieder zur Schwesternstation scheuchen, von wo ihn die unerbittliche Ms. Bissenet zum Schulpsychologen Mr. Murtha weiterschicken

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