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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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würde.
    Mr. Murtha, der durch die jahrelange Arbeit mit gestörten Jugendlichen selbst ein wenig aus dem Gleichgewicht geraten war, würde ihn willkommen heißen wie einen aus den Augen verlorenen Neffen. Ohne lange Umschweife würde er ihm einen Vortrag über das neue Millennium und die Notwendigkeit halten, auf die bevorstehende Apokalypse vorbereitet zu sein; und wenn er genügend Verwirrung gestiftet hatte, würde er mit der Feststellung schließen, dass beiden die Unterhaltung richtig gutgetan hatte. So war es zumindest an dem Tag in der Bibliothek gelaufen, nachdem eine Koalition aus Sportskanonen und Schnöseln den völlig in sich versunkenen Bernie auf das höchste Bücherregalfach verfrachtet hatte; und auch, als ihn der Hausmeister Mr. Spiller in der Müllpresse entdeckte und ihn beinahe in Knochenmehl verwandelt hätte. Der Junge hatte also keinen Grund zu der Annahme, dass diesmal etwas anderes passieren würde.
    »Was gibt’s Neues, Bernie?« Der Psychologe setzte ein übertriebenes Grinsen auf, als hätte man ihm eine Scheibe Melone zwischen die Wangen geklemmt. »Hast du noch immer diese …« Mit den Fingern signalisierte er Gänsefüßchen. »… außerkörperlichen Episoden?«
    Bernie räumte es ein.
    Mr. Murtha leckte sich den kleinen Finger, um eine widerspenstige Strähne festzukleben. Sein Haar sah aus wie zerzaustes Gefieder. Immer wieder löste und schloss er die Spange seiner Westernkrawatte, als würde er Zugposaune spielen. »Könntest du noch mal mit deinen eigenen Worten beschreiben, was du dabei erlebst?«
    Bernie legte die Stirn in Falten. Verschwunden war sein vorsichtiger Impuls, alles geheim zu halten. In letzter Zeit fühlte er sich manchmal fast unbekümmert und bereit, der Welt alles zu verraten, während ihn andererseits der Verdacht beschlich, dass er diesem Volltrottel schon zu viel erzählt hatte. »Ich glaube«, sagte er schließlich nach längerem Überlegen, »ich wachse allmählich aus mir heraus.«
    »Mmhmm.« Der Psychologe nickte, bevor er das Grinsen über den Durchmesser seines sommersprossigen Gesichts anschwellen ließ und die Scheibe Melone zum Kanu wurde. »Für mich sieht es eher aus, als würdest du schrumpfen.« Es stimmte tatsächlich, dass Bernie beinahe knochig geworden war, seit ihn die fettige Kost, mit der er sich von klein auf ernährt hatte, und Essen im Allgemeinen nicht mehr sonderlich interessierten. Der Psychologe lehnte sich zurück und hakte die Finger hinter dem Kopf ineinander. »Weißt du, Bernie, mir kommt hier alles Mögliche unter: Kids, die sich die Arme zu blutigen Stümpfen schnitzen, die uns alle in die Luft sprengen wollen, schwarze Schafe mit Augen wie Echsen und ohne jedes Gewissen. Ich treffe Mädels, die ihre Tampons mit Metamphetamin tränken, Jungs, die ihren Schwanz nicht in der Hose behalten können; aber ich hatte noch nie einen, der seine Seele nicht im Körper behalten kann. Weißt du, was ich glaube, Bernie?« Er schien darauf zu warten, dass Bernie eine Vermutung äußerte.
    »Sie halten mich für durchgeknallt?«
    »Wie kommst du darauf?« Mit einem Ächzen kenterte Mr. Murthas Kanu. »Das hab ich nicht gesagt.« Seine Augenlider flatterten. »Aber jetzt, wo du es erwähnst …«
    Ganz entre nous ließ er den Jungen dann wissen, dass er Bernies spontane Fluchten als gute Übung für den Zustand der Entrückung betrachtete und dass in diesen Tagen der Endzeit vielleicht wenigstens für einige Juden Hoffnung bestand. »Aber«, fasste er zusammen, »sosehr ich unsere Sitzungen auch genossen habe, wir müssen einsehen, dass sie nichts gebracht haben.« In der Pose offizieller Rechtschaffenheit verkündete Mr. Murtha schließlich, dass er sich im Interesse des emotionalen Wohlergehens aller Schüler an der Tishimingo High gezwungen sah, Bernies Eltern von seiner Störung zu unterrichten.
    Wenngleich sie sonst nur in wenigen Punkten Einigkeit erzielen konnten, in ihrer Abneigung gegen den Schulpsychologen fanden Mr. und Mrs. Karp sogleich zu einer gemeinsamen Linie. Es war einfach unverzeihlich, dass er sie trotz ihres vollen Terminkalenders (Mrs. Karp hatte sogar eine Elektrolysebehandlung absagen müssen) in die Sprechstunde zitiert hatte, um ihnen etwas zu eröffnen, was sie ohnehin schon wussten, nämlich, dass ihr Sohn zum Tagträumen neigte.
    Doch Mr. Murtha ließ sich von ihrer sichtlichen Skepsis nicht aus dem Konzept bringen und tat ex cathedra seine Diagnose kund. »Meiner Meinung nach leidet ihr Sohn …« Er

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