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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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bekommen hatte), weil sechzehn bereits drei Jahre über dem Alter für die bar mizwe lag, die er nicht erlebt hatte. Plötzlich fühlte er sich verpflichtet, dieses Versäumnis nachzuholen. Ohne dass ihn zu Hause jemand vermisste, nahm er nach der Schule die einstündige Busfahrt zur alten Anshei Mishna Shul unweit der North Main Street auf sich. Der heruntergekommene, von freien Grundstücken flankierte Ziegelbau beherbergte einen echten chejder: ein stickiges Zimmer mit einem hustenden Radiator, wasserfleckigen Wänden und Regalen voller modriger midrasch- und Talmudbände. Nachdem er seine erste Scheu überwunden hatte, gewöhnte sich Bernie bald daran, sich an den langen Tisch zu setzen, um dort mit dem Finger die hebräischen Lettern nachzufahren, deren Formen in seinem Gehirn korrespondierende Dunstspuren hinterließen. Es machte ihm Spaß, über Seiten zu brüten, die so brüchig waren wie Herbstlaub, und sich an den Talmudspruch zu erinnern: »Blättere und blättere, denn alles ist darin.« Die alten Männer, denen es oft an einem Zehnten fehlte, um den minjen vollzumachen, hießen ihn willkommen und luden ihn ein, mit ihnen den ma’arev zu dawnen. Auf die Rumpfmannschaft alter Veteranen, die in einer ansonsten assimilierten Gemeinde die erlöschende Flamme der Tradition bewahrten, machte der ernste junge Mann, der zum Lernen und Beten kam, großen Eindruck. Und obwohl es Bernie gefiel, an der Liturgie teilzunehmen und sich eine kippa aufs Haupt zu setzen, fühlte er sich in ihrer Mitte wie ein Heuchler. Verschärft wurden seine Schuldgefühle noch durch das Schweigen, das er wahrte, als er Klagen über den alten Hochstapler hörte, der in der Vorstadt ein Kabbalazentrum eröffnet hatte. In der Tat bot Rabbi Elieser den ortsansässigen Juden reichlich Stoff für entrüsteten Klatsch. Wer war eigentlich verantwortlich dafür, dass der angestaubte Savant auf eine leichtgläubige Öffentlichkeit losgelassen worden war?
    Doch als Bernie über die Vorbereitungen für seine verspätete bar mizwe nachdachte, war Elieser ben Zephir der einzige Berater, an den er sich wenden mochte. Zwar verhieß der kühle Empfang, der ihm bei seinem einzigen Besuch im Erleuchtungszentrum bereitet worden war, nichts Gutes für eine Fortsetzung der Beziehungen zum rebbe, aber Bernie hatte nie gelernt, nachtragend zu sein. Außerdem vertraute er immer noch blind auf Eliesers Scharfsinn. Und so beschloss er, hinaus zu seiner neuen Residenz zu fahren und dort vielleicht mit ihm noch einmal ganz von vorn anzufangen.
    Dann sorgte ein unvorhergesehener Zwischenfall dafür, dass er den Besuch verschob. Nachdem er nämlich über die Lautsprecheranlage der Schulcafeteria etwas wie die Sphärenmusik vernommen zu haben glaubte, kam Bernie erst wieder in einem Umkleidespind zu sich. Durch Lamellen in der Metalltür, die ihn an Kiemen erinnerten, sickerte Licht in den engen Schrank, und so hatte er wohl auch aufgrund der unnatürlich zusammengestauchten Haltung seines Körpers den Eindruck, sich im Bauch eines Fischs zu befinden - allerdings einem, an dessen Innenseite ein Poster von Fiona Apple hing. Es war eine friedliche Vorstellung, und erschlagen, wie er nach seinen himmlischen Fahrten war, unternahm Bernie lediglich einen halbherzigen Versuch, den inneren Sperrmechanismus aufzuhebeln, der die Tür geöffnet hätte, wäre sie nicht sowieso von außen abgeschlossen worden. Zwar konnte er bisweilen aus seinem Körper fliehen, aber nun fehlte es ihm an der Kraft, um sich aus diesem Verlies zu befreien oder auch nur gegen die Wand zu donnern, bis ihn jemand hörte. Stattdessen faltete er sich in eine bequeme Fötusposition zusammen, um seiner Entdeckung zu harren, denn der Fisch würde sicher gefangen werden und seine Beute ausspucken. Er erwachte aus seinem kurzen Schlaf, als eine Brechstange das Schloss ausriss und die Spindtür aufsprang. Davor stand der Hausmeister mit dem Dörrpflaumengesicht, der ihn schon einmal aus der Müllpresse erlöst hatte. Der Schwarze trug eine aus einem Damenstrumpf gefertigte Mütze, und seine mürrische Miene ließ erahnen, dass er bei seinem Job nicht genug verdiente, um sich auch noch mit solchen Dingen herumzuschlagen. Mit einem brüsken Nicken nahm er den Dank des Mädchens entgegen, das ihn offenbar geholt hatte.
    Nachdem er verschwunden war, fauchte sie feindselig: »Wie kommst du da rein?«
    Bernie musste zugeben, dass er keine Ahnung hatte.
    Das Mädchen stieß so heftig die Luft aus, dass ihre dunklen

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