Der gefrorene Rabbi
bedachte den Jungen mit einem schiefen Grinsen, das aber entgegen Bernies Erwartung nicht aus dem Ruder lief. »Also, meiner Meinung nach leidet er an einer statischen Epilepsie, das heißt, an einer Form der Krankheit, bei der die Grand-Mal-Anfälle fehlen, die aber dennoch eine Spielart der sogenannten heiligen Krankheit ist.«
Mr. Karp blickte seine Frau an (die sogleich mit »Was schaust du mich an?« reagierte), um sich zu vergewissern, dass der Mann Unsinn redete. Er war genug mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, zu denen seit einiger Zeit auch Rabbi ben Zephirs zunehmend anspruchsvolle Geschäftsinitiativen gehörten. Julius Karp war nur selten bewusst unhöflich, weil man ja nie wissen konnte, wer ein potenzieller Kunde sein könnte, aber in diesem Fall glaubte er, eine Ausnahme machen zu können.
»Wie alt ist der Junge jetzt?« Wieder wandte er sich seiner Frau zu, die seine Frage leicht genervt beantwortete. »Sechzehn? Wer ist mit sechzehn schon normal? Manchmal schwebt er also davon nach Wolkenkuckucksheim. Was soll daran so schlimm sein?« Abermals appellierte er an Mrs. Karp, deren blasiertes Nicken zu signalisieren schien, dass natürliche Narkose bei den Karps ein alter Familienbrauch war.
Mr. Murtha erinnerte sie daran, dass Bernie aufgrund seines Zustands von der Schule zu fliegen drohte. Davon hörten seine Eltern zum ersten Mal.
»Was ist denn mit dir los?«, zischte Mr. Karp seinen Sohn an.
Bernie war immer noch davon fasziniert, wie gut der Psychologe seine Macken unter Kontrolle hatte, und nicht ganz bei der Sache. »Ich bin ein Schwachkopf?«, meinte er reflexartig.
Mr. Karp schien das als angemessene Erklärung zu akzeptieren. Allerdings war ihm auch bewusst, dass die noch nie berauschenden schulischen Leistungen seines Sohnes nach dem Auftauen des alten Heiligen aus dem kryonischen Schlaf einen Tiefpunkt erreicht hatten. Doch seit sich Rabbi Eliesers blühendes Imperium (neben dem Handel mit Haushaltsgeräten) zu Mr. Karps zweitem Standbein entwickelt hatte, war der zadik in seinen Augen über jeden Zweifel erhaben.
»Das ist doch nur eine Phase«, beschwichtigte Mr. Karp. »Da wächst er wieder heraus.«
»Das sagt er auch.« Mr. Murtha wandte sich Bernie zu, um den kleinen Insiderwitz mit ihm zu teilen. Nun gelang es ihm auch nicht mehr, ein sichelförmiges Grinsen zu unterdrücken, das sein Gesicht zu verdunkeln drohte.
Um sich endlich loseisen zu können, gestand Mr. Karp zu, dass professionelle Hilfe wohl nicht schaden konnte.
Aber Dr. Tunkelman, der Hausarzt der Familie - der mit einem Tic Tac auf der Zunge seinen Brandyatem nicht vertuschen konnte -, erteilte Bernie einen Persilschein und widersprach der Ansicht, der Junge könnte eine Psychotherapie benötigen. Er versicherte den Karps, dass der Junge höchstens mehr Fleisch auf den Knochen brauchte. Bernie war fast ein wenig enttäuscht, dass man ihn nicht einsperren wollte; er hatte sich schon ausgemalt, in Ketten an der Wand einer Anstalt zu hängen und sonntags von zahlenden Besuchern betrachtet zu werden. Diese Vorstellung hatte durchaus etwas Reizvolles für ihn, da er seit Jüngstem etwas übrighatte für die Idee asketischer Entbehrungen. So hatte er zum Beispiel festgestellt, dass er durch Fasten leichter erreichbar war für transzendentale Erscheinungen.
Doch daheim war das Thema psychische Störungen wie in allen höflichen Haushalten tabu, und es herrschte die Auffassung, dass jedes Problem einfach verschwand, wenn es nur lang genug ignoriert wurde. Abgesehen davon war Bernie im Hinblick auf die Vorliebe seiner Mutter für Beruhigendes ein echter Spross der Familie. Mr. Karp wiederum hatte alle Hände voll damit zu tun (unterstützt von seinem wachsamen Angestellten Mr. Grusom), die Bücher von Rabbi ben Zephirs Haus der Erleuchtung zu führen, das vor Kurzem in ein geräumigeres Quartier in einer ehemaligen Baptistenkirche auf einer von Fliederbäumen gesäumten, geschleckten Anhöhe umgezogen war. Julius Karp und Ira Grusom mussten Überstunden machen, um die Gotteserfahrungsangebote des Rabbis vom preiswerten Schnellkurs in kosmischem Bewusstsein bis zum pittoreskeren, aber auch kostspieligeren Weg zur Selbsterleuchtung zu erfassen.
Von dem Familientreffen bei Mr. Murtha hatte sich Bernie vor allem die Erwähnung seines wenige Wochen zurückliegenden Geburtstags eingeprägt (zu dem er sich ein Abo für das konservative jüdische Magazin Commentary gewünscht und stattdessen eine neue Armbanduhr
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