Der Gefundene Junge
die Meerenge von Maur meiden, während Boroon den direkten Weg nehmen kann. Wir haben durchaus Chancen, vor ihnen da zu sein.«
»Wirklich?«, sagte Hoyle. Sie strich mit den Fingern über ihre Handfläche, als würde sie Münzen zählen.
»Ich sollte sofort aufbrechen«, sagte Nima.
»Auf Sie ist doch immer Verlass, Nima! Sie finden unseren Vertreter am üblichen Treffpunkt, er wird sich darum kümmern, dass die Fracht an Bord kommt. Kapitän Sandar, lassen Sie Ihre Männer die Goldtruhe zu Nima hochtragen.« Hoyle drehte sich zu Umber um, und sofort verhärtete sich ihre Miene wieder. »Und Sie, Lord Umber, kommen zu mir in die Kajüte. Wir haben noch ausführlich darüber zu sprechen, wo Ihre und meine Zuständigkeiten jeweils liegen.«
Umber trottete auf die Kajüte zu wie ein Mann, der zum Galgen schreitet, während eine kleine, aber schwere hölzerne Truhe auf die Walfischbarke geschafft wurde. Die Seemänner verteilten sich an Deck der Swift und erklommen die Masten wie Spinnen, um die Segel zu setzen. Die Segel entrollten sich und knallten im Wind, die Walfischbarke holte ihre Leinen wieder ein, und die Schiffe drifteten auseinander. Nima winkte, während Boroons Schwanzflosse sie immer weiter aufs Meer hinaustrieb.
»Fahren wir jetzt nach Kurahaven, Kapitän Sandar?«, fragte Hap.
Sandar sog tief die salzige Luft ein. »Ja, Happenstance. Und das ist ein Anblick, den du nie wieder vergessen wirst, das verspreche ich dir.«
8
Der Gedanke an das kalte, dunkle Wasser unter ihm beunruhigte Hap zwar immer noch, doch die Neugier trieb ihn nach vorn zum Bug, wo er sich fest an die Reling klammerte. Und es gab noch einen zweiten Grund, sich dort zu positionieren, mit dem Rücken zur Besatzung: So konnte niemand seine Augen anstarren. Nach einer Weile kam auch Sophie nach vorn und blieb wortlos ein paar Schritte neben ihm stehen.
Die Berge am Horizont wuchsen in die Höhe und in die Breite, während sich die Swift dem Festland näherte. Als sie einige felsige Inseln umrundet hatten und in einen viel befahrenen Schifffahrtsweg einbogen, sahen sie Schiffe aller GröÃen und Bauformen vor sich. Plötzlich waren sie auf allen Seiten von grauweiÃen Segeln umgeben, und grauweiÃe Möwen kreisten über ihren Köpfen und erfüllten die Luft mit ihrem durchdringenden Geschrei. Alle Schiffe fädelten sich durch eine Ãffnung in der Steilküste ein und aus, die direkt vor ihnen lag. Der Wind wehte in Böen, Sandar brüllte Befehle und Hap sah, dass Umber die Swift zu Recht als besonders schnell beschrieben hatte. Sie lieà alle Schiffe, die auf demselben Kurs unterwegs waren, spielend hinter sich, während die anderen Kapitäne neidvoll zu ihnen herüberschauten.
Im Näherkommen sah Hap, dass der Durchlass fast einen Kilometer breit war. Als sie die Ãffnung erreichten und an den steilen Erhebungen vorbeifuhren, die das Innere vor Blicken abschirmten, sah er zum ersten Mal den Hafen von Kurahaven, der sich kreisförmig in die Umarmung der Berge schmiegte. Einen Moment lang vergaà Hap zu atmen.
Das erste Wunder befand sich gleich hinter der Ãffnung, nahe dem Ufer zu seiner Linken. Es handelte sich um eine alte Burg auf einer Insel, deren Mauern direkt aus dem Meer emporzuragen schienen. Sie war bestimmt nicht mehr bewohnt, denn das, was noch davon übrig war, befand sich in einem bedenklichen Zustand. Früher hatten einmal vier Türme ein Hauptgebäude mit Kuppeldach umstanden. Zwei von ihnen waren inzwischen in sich zusammengebrochen und aus dem Meer ragten nur noch ihre Ãberreste auf, einer war halb zusammengesackt, und einer neigte sich so stark zur Seite, dass schwer zu verstehen war, warum er nicht auch längst eingestürzt war.
»Was ist das da für ein Gebäude?«, fragte Hap.
Sophie schaute sich um und sah, dass auÃer ihr niemand da war, der ihm hätte antworten können. Also erwiderte sie flüsternd und mit gesenktem Blick: »Das sind die Ruinen von Petraportus. Sie sind sehr alt. Dort haben früher die Könige gelebt.«
»Oh, danke«, sagte Hap. Er hätte diese eingefallene Burg stundenlang anschauen können, doch es gab noch viel mehr zu sehen. Am anderen Ende des Hafens erhob sich eine überwältigende, blühende Stadt und bildete einen starken Kontrast zu den Ruinen. Und obwohl Hap keinerlei Erinnerung an die Welt seiner
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