Der Gefundene Junge
nur Smudge. Ich überlasse es Lord Umber, ihn dir vorzustellen. Geh nicht allein hinein, wenn du nicht gebissen werden möchtest.«
Gebissen? Hap spähte durch das Fenster. Der Raum war gröÃer als erwartet. Wie tief er in den Felsen hineinführte, konnte Hap nicht sagen, weil er dicht an dicht voll hoher Regale mit Büchern und Kisten stand. Nahe der Tür befand sich ein mit Tintenklecksen übersäter Schreibtisch, auf dem ausgebreitete Schriftrollen lagen sowie ein halber Laib Brot, dem ein Schimmelgarten entspross.
Hap bemerkte etwas im Augenwinkel und riss seinen Kopf zur Seite, um dem Flugobjekt auszuweichen, das auf sie zugeschossen kam. Es knallte gegen das Gitter in der Tür, zerplatzte und bekleckerte ihn und Lady Tru mit etwas Orangefarbenem, Feuchtem, Klebrigem.
»Iih!«, sagte Hap und rümpfte die Nase. Er sah zu Boden, wo die glitschigen Ãberreste eines verfaulten Pfirsichs lagen. Aus dem Archiv drang ein Prusten und Kichern, dann hörte man das Tapsen sich entfernender Schritte.
»Er hat uns schon mit Schlimmerem beworfen«, sagte Lady Truden mit verächtlich gespitzten Lippen und schnipste mitihrem langen Fingernagel ein Stück Pfirsich von ihrer Schulter. »Lass uns weitergehen.«
Hinter dem Archiv gab es noch mehr Räume, doch Lady Truden sagte, sie überlieÃe es Umber, sie ihm zu zeigen. »Wenn er der Meinung ist, dass du sie überhaupt sehen solltest«, fügte sie etwas hochnäsig hinzu. Sie kehrten in den groÃen Saal zurück, traten wieder in den Lift und fuhren in den dritten Stock hinauf. »Die Wohnräume«, sagte sie, als sie dort ankamen.
Sie öffnete die Türen zu den freien Zimmern und forderte Hap auf, sich eins auszusuchen. Jedes von ihnen war einmalig, als wäre jedes Bett, Schreibpult oder Wandornament, jeder Tisch und jeder Stuhl von einem Handwerker aus einem anderen Winkel der Welt gefertigt worden. Hap widerstrebte es, ein Zimmer auszuwählen; er hatte nicht das Gefühl, dass er es verdiente, an so einem schönen Ort zu wohnen.
»Dieses hier kommt sicher nicht in Frage«, sagte Lady Truden, als sie die Tür zum letzten Zimmer des Flures öffnete. Aber sobald Hap einen Blick hineingeworfen hatte, wusste er, dass es wie für ihn gemacht war.
Wenn es nicht so klein gewesen wäre, hätte es vielleicht schon ein anderer für sich beansprucht. Das Bett, der Schreibtisch und die Stühle passten beinahe nicht hinein. Die in einem spitzen Winkel zusammentreffenden Wände hatten zwei hohe ovale Fenster. Zwischen ihnen stand ein goldenes Fernglas auf einer Vorrichtung, die man in alle Richtungen schwenken konnte. Der Raum war bescheiden und sonderbar, und doch fühlte er sich genau richtig an.
»Ich glaube, hier würde ich gern wohnen«, sagte Hap.
»Aber dieses Zimmer ist zu klein. Wir benutzen es nur, wenn wir sehr viele Gäste unterbringen müssen.«
»Mir ist es nicht zu klein.« Die Ãffnungen waren vergittert, wie alle anderen Fenster von Aerie auch. Aber auÃerhalb des Gitters befand sich ein kristallklares zweiflügeliges Fenster. Er öffnete die Riegel und drückte gegen den Rahmen. Frische Luft wehte herein, als die Fensterscheiben aufschwangen.
Seit sie am Hafen angekommen waren, hatten sie sich nur aufwärtsbewegt â erst die steile Auffahrt hinauf und dann noch einmal bis in den dritten Stock von Aerie. Nun konnte er durch das linke Fenster aus einer Höhe, die sonst nur Vögeln vorbehalten war, die ganze Pracht von Kurahaven überblicken, und sogar die Felder jenseits der Stadt. Durch das rechte Fenster konnte er das Rulische Meer und das geschäftige Treiben im Hafen sehen.
Hap streckte seinen Kopf durch die Gitterstäbe, schaute nach unten und wusste plötzlich genau, wo sich sein Zimmer befand: innerhalb des ausgehöhlten Kopfes, den er von der Swift aus erspäht hatte, und die ovalen Fenster bildeten dessen Augen. Hap blickte auf den Hafen hinab. Und da sah er es. Er taumelte und hielt sich an den Gitterstäben fest.
»Was ist los, junger Mann?«, fragte Lady Truden.
»Das Schiff«, sagte Hap atemlos.
Das Schiff, das Boroon über viele, viele Meilen verfolgt hatte, ankerte mitten im Hafen. Er war sich ganz sicher â und ebenso sicher war er, dass die Kreatur namens Occo tatsächlich seine Fährte aufgenommen hatte, wie es warnend in dem Brief gestanden hatte, den er nicht
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