Der geheime Auftrag des Jona von Judaea
vorzulesen und seine Gedanken zu dieser Textstelle zum Besten zu geben«, raunte ihnen Jakob zu.
Der Synagogenvorsteher enttäuschte ihre Erwartungen und die vieler anderer nicht. Er bedeutete Jesus, ans Pult zu treten und die letzte Lesung zu übernehmen.
Die an diesem Tag vorzutragende Tora-Stelle 3 stammte aus dem fünften Buch Mose. Es war das vierte Kapitel, das mit den Worten begann: »Und nun, Israel, höre die Gesetze und Rechtsvorschriften, die ich euch zu halten lehre. Hört und ihr werdet leben, ihr werdet in das Land, das der Herr, der Gott eurer Väter, euch gibt, einziehen und es in Besitz nehmen. Ihr sollt dem Wortlaut dessen, worauf ich euch verpflichte, nichts hinzufügen und nichts davon wegnehmen...«
Nachdem Jesus die gesamte Textstelle mit klarer, aber zugleich doch angenehmer Stimme vorgetragen hatte, begann er die Schrift auszulegen. Dabei begnügte er sich mit äußerst sparsamen, aber wirkungsvollen Gesten. Und schon nach den ersten Sätzen hatte er die Zuhörer in seinen Bann geschlagen. Sogar diejenigen, die ihm nicht sehr wohlgesonnen waren, hörten aufmerksam zu.
Jona sah, dass Timon vorgebeugt dasaß und geradezu fasziniert an den Lippen jenes Mannes hing. Aber auch er selbst vermochte sich der Ausdrucksstärke der Worte des Nazoräers nicht zu entziehen.
»Ihr habt gehört, dass jeder, der seine Frau wegschickt, sie in den Ehebruch treibt!… Ich aber sage euch: Schon wer eine andere Frau Lust begehrend anblickt, hat in seinem Herzen mit ihr die Ehe gebrochen!«, drang seine Stimme durch das Bethaus. »Ihr habt gehört: Mordet nicht!… Ich aber sage euch: Schon wer seinem Bruder zürnt, ist dem Gericht verfallen. Wenn ihr also eure Gabe zum Opferaltar bringt und ihr euch dort erinnert, dass euer Bruder etwas gegen euch hat oder ihr gegen ihn, dann kehrt um und versöhnt euch zuerst mit eurem Bruder. Erst dann bringt eure Gabe dar!… Ihr habt gehört, dass ihr nicht falsch schwören sollt!… Ich aber sage euch: Schwört überhaupt nicht! Nicht beim Himmel, denn er ist Gottes Thron. Nicht bei der Erde, denn sie ist der Schemel seiner Füße. Nicht bei Jerusalem, denn es ist die Stadt des gewaltigen Königs. Schwört auch nicht bei eurem Kopf, denn nicht ein einziges Härchen vermögt ihr weiß oder schwarz zu machen. Sondern euer Wort soll ein schlichtes ›Ja‹ oder ›Nein‹ sein. Was darüber hinaus ist, ist vom Bösen.« 4
Jona bemerkte, wie einige der Männer auf den Ehrenplätzen unruhig wurden und sich mit ärgerlich verzogenen Gesichtern vielsagende Blicke zuwarfen. Insbesondere die beiden Schriftgelehrten, die bei ihrem Eintreffen im Bethaus mit gewichtigen Mienen gleich auf die Ehrenplätze zugesteuert waren. Sie kamen aus Jerusalem und befanden sich auf der Durchreise, wie es hieß.
Auch dem Nazoräer entging die zunehmende Unruhe auf diesen Stühlen nicht, doch ungerührt fuhr er fort: »Ihr habt gehört, dass bei der Vergeltung Auge um Auge und Zahn um Zahn gilt!… Ich aber sage euch: Lasst euch vom Bösen nicht zum Bösen verführen! Wer euch auf die rechte Backe schlägt, dem haltet auch die andere hin! Wer dich vor Gericht zerren und dir den Leibrock nehmen will, dem lass auch noch das Obergewand. Und wer dich zu einer Meile 39 zwingt, mit dem gehe zwei!«
Hier und da kam Gemurmel auf.
Doch Jesus achtete nicht darauf, sondern fuhr fort: »Ihr habt gehört, dass ihr euren Nächsten lieben und euren Feind hassen sollt!… Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde und betet für die, die euch Böses wollen. Nur so werdet ihr Söhne des Vaters, der seine Sonne über Böse und Gute scheinen lässt und der seinen Regen herab auf Gerechte wie Ungerechte schickt. Denn wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr damit verdient? Tut nicht der Zöllner dasselbe? Und wenn ihr den Friedensgruß nur euren Brüdern entbietet, was habt ihr damit geleistet? Wollt ihr euch für etwas rühmen und euch für gerecht halten, was euch nicht die geringste Anstrengung und Überwindung kostet, um vollkommen zu werden, wie es unser Vater gebietet?«
Nun konnte sich einer der Pharisäer nicht länger zurückhalten. Er sprang von seinem Sitz auf und rief mit unverhohlenem Ärger: »Mit welcher Vollmacht redest du, Nazoräer, dass du es wagst, die Schrift so auszulegen? Obwohl von Auslegung eigentlich gar keine Rede sein kann! Nach deinen Worten erkenne ich die Schrift nämlich gar nicht mehr wieder. Hast du denn schon vergessen, was du erst vor wenigen Minuten
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