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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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Gesichtsausdruck. Ich sah Jakob aus dem Zug und Jakob an unserem Tisch vor mir, Jakob zwischen den Bäumen vor dem Lager der Schuhfabrik und Jakob, der auf dem Heimweg lachte. Ich sah den guten Willen und versuchte, mir ein Leben mit ihm auf Marstrand vorzustellen. Ich hatte das Gefühl, dass das Meer zwischen den Felsen sich bei diesem Gedanken beruhigte. Und doch wusste ich, dass ich mit ihm immer meine Feigheit verbinden würde. Dann hörte ich den Ton, der schon den ganzen Tag in mir gesungen hatte. Ich schaute zu der Lichtung hinüber, wo die Musikkapelle spielte, und ich sah den Mann mit dem Schlapphut, der Banjo spielte.
    Anton.
    Jakob folgte meinem Blick und sah, was ich sah. Als er sich wieder zu mir umdrehte, war das Gutmütige an ihm verschwunden. Übrig blieben ein bitterer Blick und ein harter Zug um den Mund. Seine Finger bohrten sich in meinen Rücken, und er zog mich ein wenig fester an sich. Er hoffe, das hier sei nicht unser letzter Tanz für alle Ewigkeit, nur weil fettere Hähne in der Nähe lauerten.
    »Diese Redeweise passt nicht zu dir, Jakob.«
    »Und so zu glotzen passt nicht zu dir.«
    »Ich habe dir niemals etwas versprochen.«
    »So kann man das auch sehen.«
    Wir beendeten den Tanz zu einer Musik, bei der der Klang des Banjos alles andere zu übertönen schien. Als es verstummte, nahm Jakob meine Hand und führte mich auf den Wald zu. Ich protestierte, wollte aber keine Szene machen. Plötzlich verließ er den Weg und zog mich den Hang hoch, bis wir vor
einer Art Grotte standen. Aber als er weiter in die Dunkelheit hineingehen wollte, riss ich mich los.
    »Du weißt, was ich gesagt habe, Jakob.«
    In seinen Augen war die Bitterkeit der Verzweiflung gewichen.
    »Irre ich mich denn, dass wir einander wenigstens ein bisschen wiedergefunden haben? Ich würde alles für dich tun, Rakel. Mit Anton wirst du nicht glücklich, das habe ich dir schon einmal gesagt. Aber ich, ich würde …«
    Er packte mich. Ich wehrte mich, und dann hörten wir es, das Echo der Vergangenheit.
    »Belästigt er Sie?«
    Anton. Mit einem Mund, wie geschaffen für meinen, und einem Gesichtsausdruck, der alles sagte. Ich verstehe und verzeihe, dass ich fiel, dass ich das Falsche tat und es geschehen ließ. Ich wische meine Augen, lache und weine ein wenig und sehe es vor meinem inneren Auge. Wie ich mich von Jakob losreiße, zu Anton gehe und die Hände um sein Gesicht lege, während Jakob den Hang hinunterrennt. Ich sehe, wie Anton die Unterlagen aus der Tasche zieht. Ich habe nun einen Pass und die Zusage einer Stelle in Amerika. Du hättest nicht herkommen dürfen. Ich konnte nicht dagegen an. Versteckst du dich? Ja, hier in der Höhle.
    Tief unter uns muss Jakob sich umgedreht und zu uns heraufgeschaut haben. Er muss gesehen haben, wie das Banjo ins Gras fiel, und er muss die Zähne zusammengebissen haben, als Anton mich in die Höhle zog, bis wir von der Dunkelheit der Felsen umschlossen wurden. Seinen Hass habe ich nicht gespürt. Ich war glücklich, und alle Vorwürfe, alle Fragen nach Wahrheit und Lüge mussten warten.

     
     
     
    »Am Vormittag musste ich den Abtransport der Toten vom Q-Turm und dem Bereich darüber überwachen. Sie wurden behutsam aufs Achterdeck getragen. Nachmittags versammelten sich unser Admiral, die Offiziere und die Mannschaft, um ihren Schiffskameraden, die das größte Opfer erbracht hatten, die letzte Ehre zu erweisen. Unser Kapitän führte die Zeremonie durch, da der Regimentspastor unter den Toten war. Anschließend wurden ihre Leichname der Tiefe des Meeres übergeben.«
     
    Alexander Grant, Kanonier auf dem britischen Schlachtkreuzer Lion.

Kapitel 16
1959
    Am Abend erhielt ich unerwarteten Besuch. Der Arzt setzte sich vorsichtig auf meine Bettkante, ehe er ohne Umschweife vorbrachte, was er zu sagen hatte. Wir haben uns alle Mühe gegeben, aber auch die medizinische Wissenschaft hat ihre Grenzen, und in diesem Fall haben wir sie erreicht. Natürlich würde man eventuelle Schmerzen lindern, aber bisher hatte ich das seines Wissens ja gut geschafft. Ob ich für die letzte Zeit noch Wünsche hätte?
    »Etwas Gutes zu essen und die Auferstehung der Toten«, antwortete ich und erhielt ein trauriges Lächeln als Antwort.
    »Die Schwestern hören, wie Sie Selbstgespräche führen. Als ob Sie …«
    »Woher wollen die wissen, mit wem ich rede?«
    Der Arzt erwiderte, es sei doch sonst niemand im Zimmer. Er gab sich alle Mühe, das, was er wohl für Verwirrung hielt, als normales

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