Der geheime Brief
unsere eigene Existenz aufbauen. Hier brauchen sie so viel. Lebensmittel und Medizin, Kleider. Wir können Beeren und Milch verkaufen.«
»Mitten im Krieg? Wo man nicht einmal das Notwendigste bekommt?«
»Das besorgen wir eben. Du wirst sehen, jetzt ist die richtige Zeit für jemanden, der arbeiten kann. Bitte, Rakel.«
Er zog mich an sich und versuchte, mich zu küssen. Ich ließ ihn zuerst gewähren, aus alter Freundschaft, aber dann merkte ich, dass er mehr wollte. Ich versuchte, ihn wegzuschieben, aber er riss an dem Band um meine Taille und plötzlich landeten wir auf dem Boden, und er lag über mir. Sein Atem war hart und fordernd und seine Augen verzweifelt, aber dann ließ er mich los und richtete sich auf.
»Verzeih mir. Verzeih mir. Ich …«
»Lass mich jetzt gehen.«
»Nein. Das darfst du nicht. Geh noch nicht.«
Ich rannte zur Tür, aber er kam mir zuvor, schloss die Tür ab, nahm den Schlüssel und steckte ihn in die Tasche.
»Du kannst mir doch wenigstens zuhören!«
»Das habe ich schon. Es führt zu nichts, Jakob. Ich mag dich. Aber ich liebe Anton. Dagegen bin ich machtlos, es ist einfach so. Lieber Jakob, du findest doch eine andere. Ich bin nicht die einzige Frau auf der Welt.«
»Für mich wohl.«
Er schlug die Hände vors Gesicht. Tränen quollen zwischen seinen Fingern hervor, und als er in die gute Stube ging, musste ich ihm einfach folgen. Er ließ sich zu Boden sinken und ich setzte mich neben ihn und streichelte ihm die Wange wie einem Kind.
Wie lange wir so saßen, kann ich nicht sagen. Jakob sprach über unsere Freundschaft, als ob er gar nichts begriffen hätte,
und ich fragte mich, was Anton wohl dachte, verlassen auf der Tanzfläche. Hatte Lea ihm gesagt, mit wem ich weggegangen war? Langsam stand ich auf und ging ans Fenster, und dann hörte ich draußen etwas. Mich überkam eine Angst, die ich nicht erklären konnte, aber ich wusste, dass etwas geschehen würde. Der Geschmack in meinem Mund verwandelte sich in den saurer Äpfel. Dann hörte ich einen Zweig, der brach, und jemand klopfte an die Tür. Anton.
»Rakel, Jakob, seid ihr da? Macht auf, um Gottes willen, macht auf! Sie sind hinter mir her!«
Ich stürzte zur Tür, rüttelte an der Klinke, hatte aber vergessen, dass abgeschlossen war.
»Anton! Was ist los?«
»Sie sind hinter mir her, sag ich doch. Lasst mich rein. Sie bringen mich um!«
»Jakob!«
Ich brüllte seinen Namen. Langsam näherte er sich der Tür, die Hände in der Tasche. Ich konnte seine Miene nicht deuten, als er Antons Stimme erkannte.
»Aufmachen!«
Antons Schreie wurden jetzt lauter, und wir hörten im Hintergrund erregte Stimmen, Zweige, die zur Seite gedrückt wurden und Hundegebell. Ich drehte mich zu Jakob um.
»Den Schlüssel! Schnell!«
Jakob stand vor mir, ohne sich zu rühren, und wütend fing ich an, in seinen Taschen zu wühlen. Anton war hier. Hatte er uns verschwinden sehen? War er uns gefolgt? Jakob hielt meine Hände fest.
»Ich kann nicht öffnen, Rakel. Das musst du verstehen. Was immer Anton gemacht hat, ist seine Sache und nicht unsere. Ich kann nicht zulassen, dass du da hineingezogen wirst. Oder meine Verwandten. Rakel, ich …«
»Gib mir den Schlüssel, Jakob!«
Ich versuchte, mich aus seinem Zugriff zu winden, aber er ließ mich nicht los. Die Verfolger waren näher gekommen, und jetzt konnten wir einzelne Stimmen hören. Wir haben den Dreckskerl! Den Mörder von Marstrand. Endlich kriegt dieser Satan seine gerechte Strafe. Der, der das Korps blamiert hat. Durch die Tür hörten wir Antons verzweifeltes Flehen, und ich schrie, Jakob habe den Schlüssel und Anton solle durch ein Fenster steigen. Dann ertrank Antons Stimme in denen der anderen. Schläge setzten ein.
Nacht für Nacht habe ich wach gelegen und sie gehört, wenn der Schlaf mich zur Närrin hielt. In stillen Morgenstunden habe ich allein auf dem Sofa gesessen, mit der Tasse in der Hand, wenn Mann und Kinder ein Stück von mir entfernt ruhten und ich in Gedanken alles hörte. Schmerzensschreie zwischen dumpfen Schlägen, keuchenden Atem und Verwünschungen, das Bellen der Hunde. Niemals werde ich Antons Wimmern vergessen und wie jemand lachte und es immer wieder sagte, das mit dem Dreckskerl, der seine gerechte Strafe erhielt. Und niemals werde ich Jakobs Gesicht vergessen. Er stand wie gelähmt vor der Tür, als er begriff, was dort geschah, ohne dass er es hätte verhindern können. Mein Flehen, Jakob solle die Tür öffnen, wurde endlich zu
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