Der geheime Brief
Verhalten auszugeben. Ich lachte ihn in Gedanken aus, spielte aber die Vernünftige, als ich erklärte, dass eine Sterbende mit ihren inneren Stimmen vieles zu klären habe, dass aber niemand an meinem Verstand zu zweifeln brauche.
»Nein, das habe ich auch nie getan«, sagte er, und zu meiner Überraschung sah ich, dass es ihm ernst war.
Danach löschte er das Licht und verließ das Zimmer. Und ich
liege hier und bin bei dem angekommen, was alles veränderte und zum Leitfeuer in meinem Leben werden sollte, das ab und zu aufleuchtete und ab und zu erlosch.
An jenem Tag hing Unruhe in der Luft. Ich hatte Anton in der Höhle verlassen und erwachte morgens neben Lea, und darüber war ich froh. Sie erzählte, sie habe das Ihre gesagt, worauf Carl Otto außer sich geraten sei. Er habe mit Gegenständen um sich geworfen und etwas von Verrat gebrüllt, als er begriffen hatte, dass sie mit Ruben weggehen wollte. Das Kind in ihrem Bauch hatte er kaum kommentiert. Es war für ihn so selbstverständlich, dass sie nicht mit Ruben zusammen gewesen war, dass er sich nicht einmal vorstellen konnte, das Kind könne von einem anderen stammen als ihm selbst. Aber er wollte nicht noch mehr Kinder, er wollte sie. Lea wurde ein wenig bleich, als sie flüsterte, dass sie Carl Otto vielleicht wichtiger sei, als sie geahnt habe. Jetzt müsse sie sich beeilen und verschwinden, ehe etwas passierte. Sie hatte mit Ruben gesprochen, und sie wollten in den nächsten Tagen schon das Boot nehmen.
Die Vorstellung, dass wir bald getrennt sein würden, versetzte mich in Panik. Rasch erzählte ich, was am vergangenen Abend geschehen war. Dass Anton trotz der Gefahr gekommen war. Es musste doch Liebe sein, wenn ein Mann das freiwillig auf sich nahm, um in der Nähe seiner Geliebten zu sein. Dass er sich in der Höhle versteckte, in der es nachts zum Glück warm blieb.
Auf dem Boden eben dieser Höhle, mit dem Kopf auf seinen Knien, hatte ich nach dem gefragt, was ich vorher gehört hatte. Und er hatte alles erklärt. Sicher hatte er sich um eine Frau geschlagen, aber diese Prügelei endete nicht tödlich, im Gegensatz zur anderen. Der Offizier musste die beiden Episoden verwechselt haben, was vielleicht kein so großes Wunder war. Er hatte damals ziemlich oft Streit gehabt aber damit war
jetzt Schluss. Es gab keinen Grund zu lügen. Was geschehen war, war geschehen, und ein Mord war ein Mord, ob nun eine Frau oder ein Kamerad der Grund gewesen waren. Oder ob ich das anders sah?
Lea wand sich im Bett, sagte aber nichts. Dann schlug sie die Decke zurück, so dass die Morgenluft unsere Körper erfasste. Der Mittsommerabend stand bevor. Das Haus musste gefegt und mit Blumen geschmückt werden, auch wenn Ottos nicht hier feiern würden. Wir buken und deckten die Tische in einer seltsamen Stimmung. Ich versuchte, an meine Mutter und meine Brüder zu schreiben. Um von Anton und den jetzt bestätigten Amerikaplänen zu berichten, die umgesetzt werden sollten, wenn die Überfahrt wieder sicher wäre. Anton hatte ich schon früher erwähnt. Ich hatte sogar angedeutet, dass es zwischen uns mehr gab als nur Freundschaft.
Mutter hatte geantwortet, sie freue sich darüber, dass ich Anton wiedergesehen hatte. Mehr nicht. Das Vertrauen meiner Mutter war mir in dieser ganzen Zeit ein weiterer Beweis für Antons Rechtschaffenheit gewesen. Wenn sie ihm vertraute, dann konnte mir nichts passieren. Trotzdem wollte meine Feder die entscheidenden Worte nicht zu Papier bringen. Die Tinte zerlief, und am Ende gab ich auf. Morgen war auch noch ein Tag, und dann würde ich auch von den Mittsommerfeiern auf Marstrand erzählen können.
Abends sollte um die Mittsommerstange getanzt werden. Lea war mit Ruben verabredet, ich mit Anton. Wir hatten frei bekommen, und als Amanda Otto die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, verließen wir ebenfalls das Haus. Wir hatten uns mittsommerschön gemacht. Lea trug ein blaues Kleid mit Stickereien auf der Brust und die Sommerschuhe, die sie am Vorabend von Carl Otto bekommen hatte. Es mochte an ihrem Zustand liegen, aber sie blühte auf wie nie zuvor.
Ich hatte mir ein grünes Seidenband um die Taille meines weißen Kleides gebunden. Lea hatte einen Kranz für mich gewunden, der jetzt auf meinem Kopf lag. Wir hakten uns beieinander unter, und der eine oder andere Mann sah uns hinterher, aber wir bemerkten das kaum. Endlich fragte ich, wo sie und Ruben hingehen wollten, und erfuhr, dass es wohl doch bei Amerika bleiben würde, sobald
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