Der geheime Brief
glaube, der ist nicht mehr da. Sonst übernehme ich ihn persönlich. Aber er wird uns nicht behindern. Vermutlich schläft er im Gebüsch seinen Rausch aus.«
Schweigend gingen wir ans Werk. Zogen Anton Hemd und Hose von Jakobs Verwandtem an, wuschen sein Gesicht noch einmal. Rollten die blutigen Kleider zusammen und hängten sie als Bündel an die Ruder. Ich sah seinen geschundenen Körper, sah die zertrampelten Hände, die mich unendlich berührten. Jakob hob ihn hoch und legte ihn sich über die Schulter, schwankte, fand dann aber wieder das Gleichgewicht. Lea und ich ergriffen die Ruder und das Segel. Dann verließen wir das Haus und wurden von der Nacht aufgenommen.
Der Wächter war nicht mehr da, Lea hatte recht gehabt. Langsam gingen wir zum Bootsanleger, vorsichtig, um den Weg für Jakob zu bereiten, der unter seiner Last fast in die Knie ging, aber nicht anhalten wollte. Auf einer Klippe saß ein Liebespaar, weiter entfernt waren Stimmen zu hören, aber niemand schien auf uns zu achten oder sich darüber zu wundern, dass wir diesen Mann trugen. Die Mittsommernacht wimmelte nur so von Männern, die getrunken und sich geschlagen hatten, und niemand konnte wissen, wer lebte und wer tot war. Ich fror und rutschte in meinem weißen Kleid die Felsen hinab, geriet mit dem Fuß in einen Spalt. Als das Boot der Verwandten in Sicht kam, waren wir erschöpft.
Jakob trug Anton an Bord und schleppte ihn über den Boden. Er sprang wieder aus dem Boot und nahm uns Ruder und Segel ab. Dann half er uns beim Einsteigen. Seine Kräfte waren nicht mehr seine eigenen, rasch hisste er das Segel. Als wir den Strand verließen, klapperten mir die Zähne.
Jakob schrie, in einer Kiste liege Ölzeug, und Lea öffnete sie. Sie reichte uns, was sie dort fand, und wir streiften die Kleidungsstücke über, während wir ablegten. Wir sahen Marstrand in seiner Wehrlosigkeit und fragten uns, ob wirklich jemand die Ufer bewachte, um eine Flucht zu verhindern. Vielleicht morgen, aber nicht in dieser Nacht. Die Zeit war auf unserer Seite.
Ich schaute auf das Wasser hinaus und dachte, dass ich mit Anton in die Tiefe gehen müsste. Dass nichts mehr einen Sinn hätte. Eine Welle schlug über die Reling, aber ich nahm nicht die Nässe wahr, sondern nur das Salz in meinen Augen. Das Meer lag offen vor uns. Etwas dümpelte in den Wellen, ein Baumstamm, ein großer Gegenstand.
Jakob legte sich in den Wind und sagte, diese Stelle hier sei besser als die meisten anderen, weit genug vom Land entfernt
und außer Reichweite der nächstgelegenen Schären. Anton ruhte auf dem Deck. Ich fiel neben ihm auf die Knie, und Jakob trat hinter mich. Dann hob er Anton hoch, wie um ihn über Bord zu hieven, aber ich sagte, noch nicht, wir müssten zuerst beten und singen.
Und dann sahen wir, was am Boot vorüber trieb. Es waren gleich mehrere Dinge. Jakob legte Anton wieder hin und beugte sich vor. Der Gegenstand drehte sich und kehrte uns ein blaues, aufgedunsenes Gesicht zu. Es war ein Mensch.
»Da sind noch mehr. Seht mal.«
Leas Stimme war tonlos, und wir wandten uns zur Reling um. Das Boot war von treibenden Toten umgeben. Ältere Männer und Jungen in Uniform, reingewaschen und ohne Blut, aber schwer verletzt. Einer schaute aus leeren Augenhöhlen, ein anderer grinste ohne Gesicht, vom Meer abgefressen und ausgespült. Wir sahen verstümmelte Leichen ohne Arme und Beine, etliche waren eng miteinander verschlungen. Sie drehten sich in einem letzten Tanz, mit dem Geschrei der Vögel als klagender Begleitung. Das Boot glitt zwischen ihnen weiter, und das Geräusch, mit dem ihre Körper gegen das Holz schlugen, klang wie ein höhnisches Weinen.
Ich erbrach mich, während Lea meine Stirn hielt. Das Wasser nahm alles entgegen, und im Hintergrund hörte ich Leas Stimme.
»Das sind Soldaten.« Ihre Stimme war noch immer tonlos. »Das sind Soldaten.«
Jakob hielt eine Hand ins Wasser und berührte etwas, ehe er sich auf das Deck setzte.
»Ich glaube, du hast recht«, flüsterte er. »Etwas muss passiert sein … sie werden an die Küste geschwemmt.«
Lea schaute wieder über die Reling.
»Es sind so viele«, sagte sie. »Wie viele mögen das sein?«
An die Küste geschwemmt. Ich nahm die Kälte nicht mehr wahr.
»Man wird sie begraben.«
»Woran denkst du jetzt, Rakel?«
»Du hast es doch gehört. Es sind Soldaten. Sie werden begraben werden. In geweihtem Boden.«
Die Sonne ging auf. Bald würde die Mittsommernacht in den Tag übergehen, und manche
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