Der geheime Brief
wieder zu mir kam, war es ganz still im Zimmer. Jakob war im Sessel in einen unruhigen Schlaf gesunken, ich lag unter einer Decke auf
dem Boden. Sicher hatte Lea mich zugedeckt. Ich fühlte mich wie gerädert und setzte mich auf. Anton lag bewegungslos auf dem Sofa, Lea beugte sich über ihn. Die Erinnerung traf mich wie ein Messerstich, und in einer zitternden Sekunde durchlebte ich alles noch einmal. Ich sah, dass Lea Antons Arm nahm und sanft seine Hand an ihre Wange hielt.
Vorsichtig stand ich auf und ging zu ihnen hinüber. Ohne Hoffnung flüsterte ich Antons Namen. Aber mein Wunsch war stärker als der Tod, und er hob auch den anderen Arm, wie zur Antwort auf eine Beschwörung. Ich nahm vorsichtig seine verletzte Hand und merkte, dass sie noch warm war, und ich wusste, dass ich das hier immer mit mir tragen würde. Ein Atemzug. Ein zweiter. Die Lunge, die es noch einmal schaffte. Und dann nichts mehr.
Im Tod sah ich das Leben. Sah meinen Vater umgeben von Kohlmeisen, spürte seine Hand in meiner, zusammen mit Antons, fühlte, wie Leben mit Leben verbunden wurde und dass nichts anderes von Dauer ist. Ich drehte mich zu Lea um und sah, dass sie Antons Hand vorsichtig auf seine Brust legte. Sie drehte sich zu mir um, und in ihrem Gesicht lag so viel Liebe, dass alles eine Erklärung erhielt. Dann sah ich das, was ich noch heute als unerklärliche Leihgabe der Unendlichkeit betrachte. Leas Wange, die Antons Hand berührt hatte, war glatt. Das Muttermal war fast verschwunden. Übrig blieb nur eine leichte Verfärbung.
»Lea. Ich …«
»Geliebte Rakel.«
»Dein Muttermal …«
Sie richtete sich auf, ging zum Spiegel und schaute lange hinein. Berührte dann mit den Fingern ihre Wange, zog die schwachen Konturen nach und drehte sich zu mir um, während ich neben Antons totem Leib saß.
»Jetzt habe ich mein Zeichen erhalten. Und ich akzeptiere diesen Beweis. Es gibt einen Gott.«
Ich verstand sie nicht und dachte, die Erregung habe ihren Körper beeinflusst und verändert. Mutters Haare waren durch den Verlust weiß geworden, vielleicht reichte Leas Trauer aus, um die Kindheitserinnerung an die Geburt auszulöschen. Aber ich wusste, dass ich meine Zunge hüten musste, dachte, es werde später wichtig werden. Jetzt gab es nur eins. Meine Einsamkeit.
Plötzlich fiel mir ein, was die Männer über den geweihten Boden gesagt hatten. Es wäre ein Leichtes, Anton bei den Selbstmördern zu begraben, wo sich die Seelen der Ausgestoßenen um den Platz streiten mussten, da es bei den Menschen keine Gnade und keine Duldsamkeit gab.
»Lea. Wir müssen ihn begraben. Auf dem Meer.«
»Ich weiß, ich habe das auch schon gedacht. Jakob muss uns helfen.«
Sie trat ans Fenster. Windstöße trieben jetzt Schaum über das Wasser.
»Weck ihn auf. Sag ihm, was geschehen ist, und dass er mitkommen muss. Allein schaffen wir das nicht. So ungern ich das auch sage.«
Sie griff zur Schnapsflasche und reichte sie mir weiter. Ich ging zu Jakob und rüttelte ihn. Er fuhr zusammen und starrte mich verständnislos an.
»Anton ist tot. Wir müssen ihn begraben.«
»Was habe ich getan? Was habe ich getan?«
Jakob wiegte sich hin und her und schlug sich selbst in den Bauch. Ich nahm seine Hände und sagte, noch immer sehr traurig:
»Wenn sie Anton morgen holen, wird er in ungeweihtem Boden begraben. Wir sind ihm eine anständige Beisetzung schuldig,
und das Meer ist barmherzig. Diesen Dienst kannst du ihm erweisen. Er kann dir nichts mehr tun.«
Ich weiß nicht, was meine Worte mit Jakob machten. Ich weiß nur, dass er die Schuld abschüttelte und die Vorwürfe aufschob, ein wenig so, wie ich die Veränderung von Leas Muttermal und meine eigene Verzweiflung aufgeschoben hatte. Jakob stolperte zu Anton hinüber und musterte den leblosen Körper. Dann ging er zu einem der Krüge und zog Blumen heraus, die er zwischen Antons Hände legte. Als er das Vaterunser betete, wäre seine Stimme bei »und vergib uns unsere Schuld« fast gebrochen, aber als er das Gebet beendet hatte, war sie wieder fest.
»Das Boot liegt ein Stück von hier entfernt. Ihr könnt Ruder und Segel nehmen, und ich trage Anton. Wir können nicht davon ausgehen, dass wir nicht gesehen werden. Die helle Nacht …. nicht alle sind schlafen gegangen.«
Lea drehte sich zu ihm um.
»Es ist zwei Uhr nachts. Dunkler wird es nicht in der Mittsommernacht. Wenn jemand fragt, dann sag, du müsstest einem betrunkenen Freund helfen.«
»Und der Wächter da draußen?«
»Ich
Weitere Kostenlose Bücher