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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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inmitten der Namhaften und der Namenlosen, dachte ich, hier, in geweihtem Boden auf schwedischem Grund, liegt ein Ehemann, Sohn und Soldat, der dem Menschen, den ich am meisten geliebt habe, das ewige Leben gerettet hat. Ich dachte an das Schiff Wiesbaden, dessen Wrackteile auf Marstrand angetrieben wurden. Und ich dachte, ich sollte in unserem großen Nachbarland um Hilfe bei den Nachforschungen bitten.
    Aber ich verschob diesen Plan immer wieder. Wochen wurden zu Jahren, und als mein Blut protestierte und die Leukämie zur Tatsache wurde, wusste ich, dass es mir nicht vergönnt sein würde. Das überraschte mich nicht. Das Meer würde mich besiegen, und mir bliebe nichts übrig, als mich zu fügen. Jakob wird den Ring bekommen, aber er wird nichts unternehmen. Jemand anders muss das übernehmen, und ich glaube zu wissen,
wer. Es tut weh, ich weiß. Aber diejenigen, die einen Jüngling aussandten und nichts zurückerhielten, müssen Gewissheit erhalten.
    Mein Leben wurde, wie es wurde. Ich habe meine Kinder geliebt, war mit meiner Arbeit zufrieden, habe das Heilige ertragen, habe meine Freunde geehrt. Das lässt sich in einigen wenigen Sätzen beschreiben und hat nichts mit Verbitterung zu tun. Mein Leben hatte den Sinn, den ich ihm gegeben habe, und das ist schön so. Ich habe oft gelacht und meinen Mann umarmt. Habe wieder gelernt zu lieben. Aber das Wichtigste habe ich niemals vergessen.
    Den Krieg. Als er ein Ende nahm und mehr als zehn Millionen Menschen ihr Leben verloren hatten, fielen manche, die von der Schönheit des Krieges gesprochen hatten, vom Glauben ab. Andere Herren führten in aller Eile das Frauenstimmrecht ein, um zu verhindern, dass die russische Revolution auf uns übergriff. Die Spanische Grippe schlug zu, als der Krieg endete, wie um zu beweisen, dass die Kanonen der Menschen nichts gegen die Angriffe einer Seuche ausrichten können. Innerhalb weniger Monate mähte sie fünfzig Millionen Menschen dahin, die geschwächt waren von Kummer und Hunger. Unsere alten Freunde in Masthugget starben dahin wie die Fliegen. Aus unerfindlichen Gründen wurden vor allem die jungen, starken Männer zuerst getroffen. Sie waren dem Krieg entgangen, verloren aber trotzdem ihr Leben.
    Nein, ich habe nie den Krieg vergessen, gegen den ich mein Leben lang gekämpft habe. Auf jedem Bild sah ich ihn. In jedem Artikel, jedem Bericht, aus jedem Land und im Namen jeder Religion. Die toten Soldaten haben mich immer begleitet. Aber bald ist es vorbei. Bald werde ich über freie Wiesen laufen können, werde über das Streben der Menschen nach Kontrolle und Ordnung lachen, werde mir die Erde von den Händen
wischen und das Unfassbare umarmen. Bald kann ich wieder spüren, wie alles seinen Sinn zurückerhält.
    Danach sehne ich mich. Mehr, als ich es jemals für möglich gehalten hätte.

Kapitel 19
Mai 2008
    Wenn sie an die letzten Monate zurückdachte, erinnerte sie sich vor allem an den 21. Dezember. Als die Dunkelheit sich dem Licht ergab. Das bewies, dass irgendwann alles eine Wende nimmt. Sie verbrachte schöne Weihnachtstage auf Marstrand. Peter und seine Freundin Sofi, klein, blond und aufgeweckt, hatten alles schlicht geschmückt und mit ihr, Niklas und Harald gefeiert. Das Meer war in den Buchten gefroren, und der Schinken war, dank Niklas, außen kross und innen saftig gewesen. Ein Weihnachten ohne Anspielungen auf das Vergangene, wo Wichtelvater und Wichtelmutter im Karton in Stockholm liegen blieben. Im nächsten Jahr würde sie sie vielleicht wieder aufstellen und sich in Trauer und Freude erinnern. Und das Haus hatte sich ruhig verhalten. Hatte sie nicht daran erinnert, was seine Wände, sein Dach und sein Boden gehört und gesehen hatten.
    Nun saß sie im Flugzeug nach Frankfurt und dachte daran, wie sie sich von Onkel Ivar verabschiedet hatte. Er hatte versprochen, ihren Vater zu besuchen und ihr von möglichen Fortschritten zu berichten. Sie hatte genickt, war nach Marstrand zurückgefahren und war von einem nachdenklichen, aber abwartenden Niklas empfangen worden, der gesagt hatte, was zu sagen war. Jetzt war sie an der Reihe, und sie bat um eine Frist. Verstand er das? Natürlich, als sie erzählt hatte. So,
wie er sofort versprochen hatte, ihr bei ihren Untersuchungen zu helfen. Er hatte mehrere Lieferanten und dadurch gute Kontakte in Deutschland.
    In seiner Nähe brachen Dinge aus ihr heraus, die ihr nicht bewusst gewesen waren. Die unterdrückten Gefühle aus ihren Jugendjahren, die sie für

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