Der geheime Brief
um herrschen zu können. Sicher war es kein Zufall, dass sie eines Tages erklärte, Lea solle mit ihr zum Armenhaus gehen und nach den Alten sehen. Frau Otto schaute dort manchmal nach dem Rechten. Bis heute habe ich nicht begriffen, was sie da machte. Ich weiß nur, dass sie Lea zwang,
sie zu diesem Aufbewahrungsort für mittellose Menschen, vor allem Frauen, zu begleiten.
Sie blieben einige Stunden aus, und als Lea zurückkehrte, war sie außer sich vor Wut. Es war gegen Mittag. Wir saßen in der Küche, Signe, Edvard und ich, und hörten Lea zu, während wir Signes Eintopf verzehrten.
»Sie haben offene Wunden«, sagte Lea mit zorntriefender Stimme. »Wir sind von einem Saal zum anderen gegangen, und überall stank es wie die Karre der Nachtmänner. Einige jammerten, aber die Ottosche lief weiter, ohne ihnen Wasser oder Brot zu geben, und Pflegerinnen konnte ich nicht entdecken. Also ging ich zu einer der alten Frauen, die nur noch Haut und Knochen waren. Als ich die Decke hob, sah ich, dass sie sich am Rücken vollständig wund gelegen hatte. Sie jammerte und weinte, aber als ich Bescheid geben wollte, wurde sie hysterisch. Sie meinte, wenn sie Probleme mache, würden sie sie hinauswerfen, und sie wüsste einfach nicht wohin. Und jetzt gehe ich morgen wieder hin, um ihre Wunden zu versorgen. Wenn das nur klappt. Ich habe eine der selbstgemachten Salben meines Vaters dabei. Verdammt, was für eine Welt, in der es Arme und Reiche gibt und nichts dazwischen. Es geht bergab mit allem, und wir sind zu wenige, um uns dagegen wehren zu können.«
»Sprich nicht so laut. Du weißt doch nicht, wovon du redest, wenn du hier im Warmen sitzt und klagst«, sagte Edvard und erzählte von den letzten Kriegsgeschehnissen. Er schaute immer in die Zeitung, ehe er sie dem Direktor brachte, und wusste, dass niemand mehr mit einem schnellen deutschen Sieg rechnete. Dass Königin Victoria zu den Deutschen hielt, war klar, schließlich war Blut dicker als Wasser. Aber es war die Frage, was besser für Schweden wäre, auf deutscher Seite in den Krieg einzutreten oder neutral zu bleiben. Lea brauste
auf und sagte, der Krieg würde den Insassen des Armenhauses jedenfalls nicht helfen.
Am nächsten Tag musste Lea abermals mit ins Armenhaus gehen, und als wir uns danach in der Küche trafen, sah ich sofort, dass etwas geschehen war. Ich war gerade einkaufen gewesen, öffnete mit den Armen voller Waren die Tür und wurde von ihrem Weinen empfangen. Ich ließ meine Einkäufe auf den Tisch fallen und streichelte ihre Haare. Sie schaute mich an.
»Dieses verdammte Weib hat mich nach Hause geschickt«, sagte sie trotzig.
Ich setzte mich neben sie und dachte, dass ich sie niemals loslassen würde. Lea hatte sich von Amanda Otto weggeschlichen und war zu der wundgelegenen Frau gegangen. Sie hatte ihr den Rücken mit Salbe eingerieben und ihn dann mit Lappen umwickelt, die sie in einer Ecke gefunden hatte. Danach hatte sie der alten Frau etwas zu essen gegeben.
»Ich habe es aus dem Eisschrank gestohlen«, sagte sie. »Die anderen sahen es und fingen gleich an zu schreien. Sie hungern, Rakel, und es kam eine solche Unruhe auf, dass mehrere Pflegerinnen und Amanda Otto angestürzt kamen. Was hätte ich sagen sollen? Sie schimpften mich aus, weil ich angeblich gestohlen hatte. Als wir dann gingen, war die Ottosche so wütend, dass sie fast glücklich aussah. Dann sagte sie zu mir, ich hätte mehr Gebote Gottes gebrochen, als es überhaupt gibt, und dass sie dermaßen verworfene Mädchen nicht in ihrem Haus behalten könnte. Sie arbeite zu hart, um sich auch noch um Menschen zu kümmern, die nicht genug Verstand hätten, um ehrliche schwedische Tugenden zu verstehen. Ich würde das Haus schneller verlassen, als ich ahnen könnte, um zurück zu den Bauern zu gehen, wo ich hingehörte.«
Leas Gesicht hatte die gleiche Farbe wie der schmutzige Lappen, den Signe über den Eimer gelegt hatte.
»Ich kann nicht zurückgehen«, sagte sie. »Wir haben kein Geld … mein Vater hat es auch so schon schwer genug, und Mutter hat alles gegeben, um mich herschicken zu können.«
Vater hatte immer gesagt, dass kein Mensch besser ist als der andere. Dass wir alle verwirrend gleich sind, wenn wir nackt sind, und dass niemand größer ist als Jesus Christus, als er seinen Jüngern die Füße wusch. Lea durfte nicht weggeschickt werden, weiter dachte ich nicht. Ich lief die Treppe hoch und wollte gerade die Tür öffnen, als ich Amanda Ottos Stimme hörte. Sie
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