Der geheime Brief
Eisenbahnwaggons verfaulten, weil die Rationierung nicht funktionierte. Währenddessen ließ Königin Victoria den »armen Deutschen« Lebensmittellieferungen zukommen.
Was die Nachbarin tun würde, um sich einen richtigen Schluck Kaffee zu besorgen, sollte ihr Mann lieber nicht wissen. Als ich als Antwort einige echte Bohnen hervorholte und in der Mühle zerkleinerte, sah ich sie weinen, was ich niemals wieder erleben sollte, nicht einmal, als ihr Mann einige Monate darauf an Schwindsucht verstarb.
Weihnachten war eine Qual, erleichtert nur durch Mutters segensreichen Kaffee. Außerdem hatte sie ein Stück Stoff erstanden, das für eine Bluse reichte. Ich wusste, wie sie dafür hatte sparen müssen, und dankte ihr mit einem Brief. Vor Weihnachten hatte ich an die Geschenke gedacht, die ich nicht schicken sollte. Dann hatte ich Carl Ottos Schuhgeschäft besucht, das direkt neben neben der Fabrik lag. Die Regale waren gefüllt mit den elegantesten Schuhen, Stiefeln mit Knöpfen und geschwungenen Absätzen, sahneweißen Seidenschuhen für Hochzeiten und Herrenschuhen, die Autorität verströmten. Der Geruch von Leder und Schuhcreme war von Krieg und Elend so weit entfernt wie überhaupt nur möglich. Das galt auch für die Damen, die zwischen den Regalen herumfegten und ihre Röcke hoben, um die Schuhe anzuprobieren.
Eine Verkäuferin starrte mich an. Ich starrte zurück und bat, mit Carl Otto sprechen zu dürfen. Die Verkäuferin verzog verärgert den Mund, ging aber in die Fabrik hinüber. Gleich darauf war sie zurück, wesentlich freundlicher, weil Carl Otto bei
ihr war. Er war nicht so rot im Gesicht wie sonst, und er hatte schwarze Schmiere an den Händen, die er abzuwischen versuchte.
»Ach, Fräulein Rakel, wie nett. Möchte Sie nicht hereinkommen und sehen, wie es bei uns in der Fabrik aussieht?«
Nicht zum ersten Mal dachte ich, wenn er Dienstmädchen geschwängert hatte, dann könnte ich das irgendwo verstehen. Ich machte einen Knicks und sagte, ich müsse dringend nach Hause zur Gnädigen, wolle aber gern eine Dose Schuhcreme und vielleicht auch einen Schuhlöffel kaufen und als Weihnachtsgeschenk nach Hause schicken. Die Idee mit dem Schuhlöffel war mir gekommen, als ich welche auf dem Tresen hatte liegen sehen, aus grünem Schildpatt und mit geschnitzten Holzgriffen. Carl Otto gab mir zwei Dosen Schuhcreme, suchte einen Schuhlöffel aus und bat die schnippische Verkäuferin, beides einzupacken. Dann führte er mich in die Fabrik.
Voller Stolz zeigte er mir seine Angestellten, die vor den Nähmaschinen saßen oder mit der Hand nähten und kaum von Nadel und Faden aufschauten. Er zeigte auf Lederstapel, erzählte von Schnür-, Knöpf-, Spangen- und Gummizugstiefeln, redete über Kalbsleder, Wildleder oder Lackleder. Jede Sorte gab es in Schwarz und Braun, außer dem Pferdechevreau, wie Rakel nun lernte, das es nur in Schwarz gab. Die meisten Schuhe hatten Steppnähe, es gab aber auch Stülpnähte. In diesen Kriegszeiten fehlte es an Brennstoff. Deshalb wurden die zwei Dampfmaschinen der Fabrik, die die Generatoren trieben, nicht mehr mit Kohle geheizt, sondern mit Holz. Ansonsten aber war der Krieg gut für die Geschäfte. Bei Kriegsausbruch hatten sie Schuhwerk für die schwedische Armee hergestellt, jetzt lieferten sie ins Ausland.
Carl Otto hob die Stimme, um den Lärm der Maschinen zu übertönen, als er berichtete, dass die Militärlieferungen ans
Ausland aus Soldatenstiefeln mit Schnürung und niedrigem Schaft bestanden. Zweimal pro Woche wurden diese Lieferungen von ausländischen Kontrolleuren begutachtet. Einer davon, ein Österreicher, war als Betriebsleiter bei der Fabrik geblieben.
Bereitwillig erklärte mir Carl Otto die Fachausdrücke, während er die zufrieden wirkenden Angestellten begrüßte. Er hatte eine Kantine eingerichtet, damit die Angestellten morgens und mittags essen könnten, denn satte Menschen leisteten bessere Arbeit als hungrige.
Die Stimmung am Arbeitsplatz sei mit dem Leisten zu messen, lautete seine Überzeugung.
Wir gingen wieder in den Laden, und als ich bezahlen wollte, winkte er ab. Die Verkäuferin reichte mir das Paket und musterte mich verächtlich, als glaubte sie zu verstehen, warum ich es erhielt.
Mutter bedankte sich in ihren Briefen wieder und wieder für die Weihnachtsgeschenke und wünschte mir Gottes Frieden. Keinesfalls dürfe ich mein Geld für weitere Geschenke ausgeben. Sie schrieb außerdem, dass Hannes trotz allem in Uppsala studieren würde,
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