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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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klang das wie eine Beleidigung. »Der wagt doch nicht einmal, für den Frieden seines eigenen Volkes Stellung zu beziehen. Für den Krieg zu hetzen, jetzt, wo wir wissen, was passiert, ist die pure Barbarei. Und was du da über die Sozialisten gesagt hast - vielleicht wirst du dich bald daran gewöhnen müssen, dass nicht mehr die einen servieren, während die anderen sich den Bauch vollschlagen. «
    Marianne kicherte, während Fridolf den Finger an die Lippen
legte. Carl Otto öffnete den Mund, aber Amanda Otto kam ihm zuvor.
    »Reden kannst du, Ruben. Aber noch besser ist es, zu handeln. Also steh jetzt auf und überlass Lea deinen Platz. Und dann kannst du ihr Muscheln vorlegen.«
    Die Stille, die jetzt folgte, war noch schlimmer als die, die mein Klavierspiel hervorgerufen hatte. Nur das Ticken der Wanduhr und Rubens Atem waren zu hören. Lea war mitten in einer Bewegung erstarrt. Ein Wunder, dass ihr die Muschelschale nicht aus den Händen glitt. Erst als Ruben zu ihr ging, die Schüssel nahm und sie aufforderte, sich auf seinen Stuhl zu setzen, erwachte sie wieder zum Leben.
    »Ruben … das muss doch nicht sein.«
    Aber Ruben drückte Lea auf den Stuhl und nahm mit der anderen Hand die Schüssel. Seine Bewegungen zeigten, dass er leicht berauscht war. Das erklärte, wieso er es wagte, seine Mutter in aller Öffentlichkeit herauszufordern.
    Lea starrte auf Rubens schmutzigen Teller. Wie von Geisterhand hatte sie plötzlich einen sauberen vor sich. Hinter ihr stand Ruben und tischte ihr Muscheln auf. Er suchte sich die kleinsten aus, vielleicht, weil ihm klar war, dass er in seinem Eifer, seiner Mutter Widerstand zu leisten, Lea in eine unmögliche Situation gebracht hatte. Alle starrten sie an, und dann geschah es.
    Lea reckte den Rücken und den Hals. Ganz ruhig nahm sie eine Muschel, öffnete den Mund und biss hinein. Das Krachen, als die Schale zwischen ihren Zähnen zerbrach, schien im Zimmer widerzuhallen. Sie biss noch einmal und kaute konzentriert. Als sie fertig war und alles hinuntergeschluckt hatte, sah sie Amanda Otto an.
    »Meine Mutter hat immer gesagt, dass die Nahrung in der Schale sitzt.«

    Dann stand sie auf, nahm Ruben die Schüssel weg und servierte weiter.
    Im folgenden Tumult waren nur einzelne Stimmen und Geräusche zu verstehen. Mariannes schallendes Lachen, Fridolfs Versuch, alles mit banalen Redensarten zu überspielen, die Fragen eines Kindes. Kannst du das noch einmal machen? Durch alles hindurch war Amanda Ottos Urteil zu hören.
    »Wenn Lea fertig ist, kann Lea gehen. Ich will sie in diesem Haus nie wiedersehen!«
    »Jetzt bist du still, Mutter!«
    Rubens Stimme kippte ins Falsett um. Dann ging er zu Lea, riss ihr die Schüssel aus der Hand, knallte sie auf den Tisch und zog Lea zum Ausgang. Aber ehe sie die Tür erreicht hatten, war Carl Ottos Stimme zu hören.
    »Lea fängt in meinen Schuhgeschäft an. Morgen. Um acht.«
    Und quer durch den Raum begegnete Antons Blick meinem.
     
    Drei Stunden darauf war ich nach diesem denkwürdigen Abend auf dem Weg nach Hause. Als Lea und Ruben gegangen waren, kehrte Carl Otto seine Autorität hervor. Er wechselte so demonstrativ das Thema, dass nicht einmal Amanda Otto ihn davon abbringen konnte. Sie saß schwitzend in ihrem Sessel, ihr Kehlkopf bewegte sich auf und ab. Ihre Hände griffen häufiger als sonst zum Weinglas, und gegen Ende des Abends war sie betrunken und redete laut über undankbare Kinder und ungebildetes Pack.
    Marianne und Anton gaben sich alle Mühe, um die Stimmung aufzulockern. Ich servierte Pudding mit Pflaumen und Portwein. Als dann Kaffee und Zigarren an die Reihe kamen, waren meine Pflichten im Salon fast beendet. Ich half in der Küche, wo Signe unter der Last von Abwasch und Resteverwertung fast zusammenbrach. Edvard zerschnitt das Fleisch.
Wir setzten uns erschöpft an den Küchentisch, griffen zu und tranken Wein. Wir wussten, dass etwas Entscheidendes passiert war. Aber Amanda Otto konnte an diesem Abend nicht noch mehr von uns feuern. Edvard verzog den Mund und meinte, viel schlimmer sei es noch nie gewesen, könne es aber werden. Er hatte recht.
    Erst nach Mitternacht durfte ich nach Hause gehen. Die Herrschaft lag erschöpft in den oberen Stockwerken, die Kinder waren in den Zimmerecken eingeschlafen. Ich zog meinen Mantel an, merkte, dass ich vor Müdigkeit und Unruhe fror, und wollte gerade gehen, als Signe auf mich zutrat und mir ein Paket in die Tasche steckte. Sie murmelte »darüber reden wir nicht«.

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