Der geheime Brief
auseinandergerissen wurde. Ein besonderer Willkommensgruß gilt Anton. Greift zu und esst und trinkt, solange es etwas gibt. Ein Prosit auf euch, ihr Lieben!«
Carl Otto trank, hob abermals sein Glas und setzte sich. Seine Rede war ungewöhnlich ernst gewesen, aber die Stimmung wurde immer ausgelassener, je mehr Flaschen und Gläser sich leerten und das Essen vom blankpolierten Besteck zerlegt wurde. Fridolfs Kinder vergaßen bald, dass sie gerade sitzen mussten, und fingen an, vorsichtig um den Tisch herumzulaufen. Lea und ich rannten hin und her, ab und zu assistiert von Edvard, der half, Fleisch zu schneiden und Getränke zu servieren. Sogar Amanda Otto schien sich zwischendurch in ihrem eigenen Heim wohlzufühlen. Sie ließ sich zurücksinken und kratzte sich am Hals, wo die Boa einen hässlichen und störenden Ausschlag hervorgerufen hatte. Plötzlich streckte sie die Hand über den Tisch und packte Antons Arm.
»Ruben hat erwähnt, dass Sie musikalisch sind, aber nicht, welches Instrument sie spielen. Wir haben wohl nicht das Glück, dass Sie sich nachher ans Klavier setzen?«
Marianne lachte auf, ein hemmungsloses Lachen, das zeigte, dass sie jetzt in Stimmung gekommen war.
»Wie fantastisch. Ja, Anton, spielen Sie für uns. Einen Hochzeitsmarsch. Oder können Sie einen Walzer? Ich bin sicher, dass Sie im Laufe der Jahre viel getanzt haben.«
Niemand außer Amanda Otto konnte diesem Lachen widerstehen, und danach war für einen Moment alles still. Alle konnten hören, was Anton zur Antwort gab.
»Ich spiele leider nicht Klavier, Marianne. Im Gegensatz zu Rakel. Ich hatte vor einigen Jahren das Vergnügen, einige Tage bei Rakels Familie zu verbringen. Ihre Eltern betrieben in einem Ort in Närke vorbildliche Missionstätigkeit, und ich machte auf meinem Weg nach Norden bei ihnen Station. Selten ist ein Fremder so gastlich aufgenommen worden. Ich werde es nie vergessen, und ich werde auch nie vergessen, wie schön Rakel auf dem Klavier spielte, das im Gebetssaal stand.«
Amanda Ottos Wangen warfen Falten, und ihre Zähne funkelten, als sie sich zu mir umdrehte.
»Dann stell die Schüssel weg, Rakel, und setz dich ans Klavier. Du brauchst dich wirklich nicht zu genieren. Wir sind voller Erwartung. Ich bin davon überzeugt, dass du erstklassigen Unterricht genossen hast.«
Ich hätte ihr ins Gesicht spucken mögen, wenn nicht Vater im Himmel die Hand ausgestreckt und mich zum Klavier geführt hätte. Ich setzte mich auf den Hocker und dachte, dass ich seit Monaten nicht mehr gespielt hatte. Dann taten meine Finger wie geheißen. »Breite deine Schwingen, Jesus, über mich«. In den Klängen lag Ruhe, und ich vergaß, wo ich war. Das Klavier war nicht gestimmt, hatte aber einen schönen Klang. Ich kehrte erst in die Gegenwart zurück, als ich vorsichtiges Klatschen hörte. Carl Otto sprang auf.
»Bravo, Rakel«, rief er. »Hiermit hast du meine Erlaubnis, so oft auf dem Klavier zu spielen, wie du willst. Das Instrument stammt von meiner Mutter, ist seit ihrem Tod aber vernachlässigt worden. Kannst du nicht …«
»Es wäre dann wünschenswert, wenn Rakel so freundlich sein könnte, die Muscheln aus der Küche zu holen. Zum Kaffee
gibt es dann vielleicht mehr von dieser vortrefflichen Unterhaltungsmusik. «
Amanda Ottos Stimme war von eisiger Höflichkeit. Ich erhob mich vom Klavierhocker, machte einen Knicks und verschwand in Richtung Küche. Lea kam mit der ersten dampfenden Muschelschüssel nach oben und lächelte bewundernd, als wir uns aneinander vorbeidrängten. In der Küche arrangierte ich die übrigen Muscheln, und als ich wieder nach oben kam, merkte ich, dass die Stimmung umgeschlagen war. Ruben antwortete in großer Erregung seiner Mutter.
»Die Internationale der Arbeiter ist vielleicht auseinandergebrochen, Mutter, da hast du recht. Aber auf dem Kongress in Zimmerwald wurde klar, dass die sozialistische Friedensinitiative eine Chance hat. Männer wie Lenin und Trotzki … Zinowjew … jetzt sind sie im Ausland auf der Flucht, aber sie werden zurückkommen. Es gibt keine Alternative. Es geht um einen dauerhaften Frieden. Um eine sozialistische Gesellschaft. Die Sturmuhr schreibt …«
»Ein sozialistisches Schundblatt!« Amanda Ottos Stimme troff vor Verachtung. »Als ob es mit Branting und seinen Grillen nicht reichte. Die endgültige Antwort wird ja doch niemand geben, solange Krieg geführt wird. Da ist es praktisch, sich hinter dem König zu verstecken.«
»Dem König!« Bei Ruben
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