Der geheime Brief
Ich umarmte sie und merkte, dass sie so warm war wie ihre köstlichen Rosinenbrötchen und ebenso außer sich wie ich.
Draußen war die Luft schneidend, und ich lief so über das Kopfsteinpflaster, dass mein Absatz in einem Spalt steckenblieb. Ich riss den Fuß heraus, spürte, wie etwas abbrach, und stieß einen Stalljungenfluch aus. Bei einer Bierkneipe lehnten zwei torkelnde Männer aneinander. Als sie mich sahen, hoben sie die Flaschen und riefen, dass eine so süße Kleine nachts nicht allein unterwegs zu sein brauchte. Dann torkelten sie hinter mir her.
Ich lief schneller, merkte aber, dass sie sicherer auf den Beinen waren, als es ausgesehen hatte. Nach einigen Minuten hatten sie mich einholt und nahmen mich zwischen sich. Dem einen fehlten mehrere Zähne, der andere hustete so sehr, dass ihm der Speichel aus den Mundwinkeln troff.
»Nun renn doch nicht so. Wir sind nur zwei einsame Seeleute, die für einige Stündchen eine warme Umarmung brauchen. Oder jemanden zum Reden. Dafür bist du dir ja wohl nicht zu fein?«
Ich schüttelte den Kopf und ging weiter. Einer der Männer machte einen raschen Schritt und überholte mich damit, und plötzlich drückte er mich gegen eine Hauswand. Ich schrie auf. Das erschreckte ihn und mich, denn er zog ein Messer und hielt es mir vor das Gesicht.
»Jetzt spiel doch nicht so kackvornehm. Wenn sie schon kein Geld für einen armen Teufel hat, dann kann sie wenigstens …«
»Lasst sie los!«
Alle meine Gebete hatten ein Ende genommen, aber nun tauchte aus dem Dunkeln eine Gestalt auf. Ehe ich auch nur einen Gedanken fassen konnte, hatte er den Mann vor mir gepackt und mit einem Schlag zu Boden geworfen. Er schlug mit einem scheußlichen Dröhnen auf das Pflaster auf, einem Knacken, ähnlich dem, mit dem Lea die Muschel zerbissen hatte.
Der andere Mann versuchte, wegzurennen, ihm wurde jedoch ein Stoß versetzt, und er blieb ebenfalls im Rinnstein liegen. Der Mann, der die beiden niedergeschlagen hatte, trat vor und versetzte beiden weitere Tritte in die Seiten. Er trat abermals zu, und ich sah, dass es Anton war, und dass seine Schuhe schwarz vom Schmutz waren und rot vom Blut des einen Mannes.
»Bitte, Anton, hör auf!«
Er drehte sich mit einer Miene um, als wisse er nicht, wer ich war, und ich sah den puren Wahnsinn. Anton wischte sich Schmutz von einem Ärmel, packte die Kerle an den Haaren und riss ihre Köpfe vom Boden hoch. Der eine jammerte leise.
»Ihr habt eine unschuldige Frau überfallen und werdet jetzt von dieser Frau gerettet. Das ist mehr, als ihr verdient. Wenn ich euch noch einmal sehe …«
Er ließ los und die Köpfe knallten wieder auf das Pflaster.
»Bitte, Anton, lass uns gehen. Bitte!«
Diesmal hörte er auf mich. Er fasste mich unter dem Arm
und zog mich so schnell mit sich, dass ich nur mit Mühe Schritt halten konnte. Wir schwiegen beide. Langsam wich mein Schrecken, und nach einer Weile spürte ich, dass Anton noch immer meinen Arm hielt.
»Warum bist du mir gefolgt?«
Die Frage kam mir seltsam vor. Anton hatte mich gerettet und ich hatte mich nicht einmal bedankt. Aber in Gedanken erlebte ich diesen schrecklichen Abend noch einmal. Das Wiedersehen mit Anton, das Klavierspielen, Leas Zähne um die Muschelschale, und ihr Abgang mit Ruben, dann der Überfall und das Geräusch von Schädel auf Stein …
»Ich konnte dich doch nicht allein losgehen lassen. Nach Rubens Abgang gab es keinen Grund, länger zu bleiben als nötig. Ich habe mir alle Mühe gegeben, höflich zu den Gastgebern zu sein.«
»Und natürlich zu Marianne.«
»Wenn du Tors Frau meinst, dann war sie eine der wenigen, die sich heute Abend zivilisiert verhalten haben. So etwas habe ich wirklich noch nie erlebt. Du bist da nicht in guten Händen, Rakel. Ein Glück nur, dass deine Mutter nichts davon weiß.«
»Nicht alle haben das Glück, rechtzeitig zu sterben. Einige müssen auch weiterleben.«
Ich spuckte das wirklich aus, und Anton seufzte.
»Es gibt etwas, das du mir nicht verziehen hast. Das höre ich. Wenn ich nur verstehen könnte, was das ist, dann würde ich alles tun, damit du es vergisst. Damals im Gebetssaal hast du doch versucht, mich zu schlagen. Hast du das vergessen?«
Dass er nichts begriff, war schlimmer als alles andere. Ich ging weiter. Er lief hinter mir her und fasste meinen Arm, aber ich riss mich los.
»Rakel. Kannst du nicht wenigstens ein bisschen dankbar dafür sein, dass ich dich vor diesen Betrunkenen gerettet
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