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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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Entdeckungsreisenden und Kriegshetzer Hedin diktieren lässt. Dass die Regierung mit ihrer derart starken
Stellungnahme für Deutschland so billig weggekommen ist, ist unfassbar. «
    Tor widersprach sonst nur selten. Amanda Otto drehte sich empört zu ihm um.
    »Wir haben die Regierung, die wir verdienen. Sag bloß, Ruben hat dich beeinflusst. Reden über Russland und die Rechte der Arbeiter … wir wissen doch, dass die Russen noch immer auf schwedischem Gebiet die Deutschen beschießen. Sie schicken ihre Spione her, die wir dann ausweisen müssen. Nachweislich, Tor. Dass die Engländer sich tatsächlich mit einem slawischen Volk verbünden …«
    »Aber die Deutschen haben die Lusitania versenkt. Über tausend Tote. Ich will nicht Stellung beziehen, Mutter. Du weißt, ich bin ein echter Liberaler. Aber unsere Neutralität müssen wir uns bewahren. Wir haben beide Bilder der deutschen und russischen Kriegsgefangenen gesehen. Ich bewundere die Schwestern, die sich um sie kümmern. Es wäre eine Schande, wenn unsere schwedischen Jungs ebenso verstümmelt nach Hause kämen.«
    »Der schwedische Nationalcharakter …«
    »Unsinn! Phantasien ohne wissenschaftlichen Beweis!«
    Tor leerte sein Glas, und seine Frau fragte, ob man nicht irgendwann einmal zu Valands gehen könnte. Die Soupers dort sollten bezaubernd sein und noch für einige Abende vom Wiener Damenorchester begleitet. Lea wurde etwas aufgetragen. Sie ging in die Küche, und im selben Moment klingelte es. Ich lief in die Diele. Frau Otto würde sich ärgern, weil Ruben zu spät kam, zumal er einen Bekannten mitbrachte, den er aus einem theologischen Seminar kannte. Ich strich mein Kleid glatt und öffnete.
    Vor mir stand Ruben. Und neben ihm Anton.
    Er hatte sich in den vergangenen vier Jahren nicht verändert.
Seine Haare waren noch so dunkel, seine Augen so rußschwarz wie damals. Aber jetzt war er wie ein Herr gekleidet, in Anzug, Hemd, Rock mit Samtkragen und glänzenden Schuhen. An seinem Finger steckte ein Ring.
    Ruben drängte sich an mir vorbei und murmelte eine Entschuldigung. Ich brachte kein Wort heraus. Mein einziger Trost war, dass Anton ebenso verwirrt wirkte wie ich. Er blieb vor der Tür stehen. Erst nach einer Weile lächelte er und hielt mir die Hand hin.
    »Rakel. Was für ein unglaublicher Zufall. Gottes Wege …«
    »Hier geht es eher um meine Wege.«
    Die Worte kullerten nur so aus mir heraus. Ruben schaute uns fragend an, und Anton wandte sich ihm zu.
    »Rakel und ich sind alte Bekannte. Ich hätte nie damit gerechnet, sie hier zu sehen. Als Hausmädchen …?«
    Seine Behauptung war eine Frage. Ruben nickte bestätigend. Er wirkte nervös, vermutlich wegen seiner Verspätung. Anton bat ihn, schon vorzugehen. Ruben war nicht geistesgegenwärtig genug, um das seltsam zu finden. Er gab mir seinen Mantel und verschwand im Salon. Anton und ich waren allein.
    Ab und zu habe ich mich gefragt, wie es kommt, dass die Luft zwischen zwei Menschen ruhig und still sein kann, während sie zwischen anderen wie Nebel ist, dick in ihrer Konsistenz. Ich stand vor Anton und konnte fast nicht atmen. Mein Gesicht wurde heiß, Rubens Mantel glitt zu Boden. Rasch bückte ich mich danach, aber nicht so rasch wie Anton. Unsere Finger berührten sich auf dem groben Wollstoff.
    »Hast du die Silberleuchter genommen?«
    Ich konnte nicht anders. Ich wollte fragen, warum er mit einer Dreizehnjährigen getanzt und mich geküsst hatte.
    Ich wollte verstehen, warum er ohne ein Wort gegangen war und niemals einen Brief geschickt hatte. Ob er wusste, dass
mein Vater tot war. Ich wollte ihn schlagen und ihn anschreien, er solle sich mit seinen feinen Kleidern in die Wüste scheren. Zugleich hatte ich furchtbare Angst davor, dass er jetzt in den Salon und noch einmal aus meinem Leben hinausgehen würde.
    »Rakel … warum willst du das wissen?«
    »Weil du verschwunden bist. Ohne ein Wort. Und nie wieder von dir hören ließest.«
    »Warum hätte ich das tun sollen? Viele kamen vorbei und haben in eurem Gebetssaal gesprochen. Haben die alle von sich hören lassen?«
    Ich drehte mich um und hängte Rubens Mantel auf einen Kleiderbügel. Dann ging ich auf den Salon zu. Sicher wunderte sich da drinnen irgendwer über die Geschehnisse in der Diele. Irgendwer, der mich zur Verantwortung ziehen, bitter bestrafen würde.
    »Warte. Verzeih mir. Ich mache nur Witze, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. Ich bin überstürzt verschwunden, das stimmt. Aber ich dachte, deine Mutter

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