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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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sich zu erklären, hatte die Beere zwischen meine Lippen gepresst und gesagt, es sei nicht so schlimm. Sie war gezwungen worden, und ich war beschützt gewesen, und bei meinen Eltern
gab es Tiere im Stall, bei ihren nur die verlassenen Boxen. Ich wanderte ziellos umher, sah Geschäfte und Kneipen und las Plakate, die einen Friedenszustand simulierten. Hier gibt es Waren, hier gibt es Lachen. Ich sah zerlumpte Kinder mit ausgestreckten Händen, gab ihnen einige Münzen, und sie rannten weg, vielleicht, um die Münzen in der Bäckerei gegen Lakritzschnüre oder Krümel einzutauschen. Krümel, früher etwas für Vögel, jetzt für hungrige kleine Menschen. Ich sah einige Bauern auf dem Weg zum Markt und las die Zeitungsschlagzeilen. Neue Verhandlungen mit England. Schweden verlangt ein Ende der Post- und Telegrammzensur. Schöner Frühling 1916, aber seit bald zwei Jahren Krieg. Würde er nie ein Ende nehmen?
    Die Gelüste des Körpers. Wo hatte ich das gehört? Vielleicht hatte ich es nicht gehört, sondern nur verspürt, und wollte es mir deshalb nicht eingestehen. Lea hatte über meine Begegnung mit Anton im Gebetssaal gelacht und mich dazu gebracht, mich dessen zu schämen, was ich mir in der Nähe eines Mannes eingebildet hatte, den ich gar nicht kannte. Ich hatte versucht, meinen Körper und meine Seele zum Gehorsam zu zwingen. Vergeblich. Hier in den Straßen, als ich mit den Händen in der Tasche umherwanderte, musste ich mir eingestehen, dass ich an Anton dachte, wenn Jakob mich küsste, Antons Hand streichelte mich in Jakobs Umarmung, Antons Stimme flüsterte Jakobs ehrlichen Wunsch nach einem lebenslangen Zusammensein.
    Wir trafen uns noch immer. Wenn Ruben bei uns saß und mit Lea redete, war meistens Anton dabei, und wenn Jakob im Hafen war, dann mahlten wir vier die Bohnen, tunkten das Brot und aßen geschmuggeltes Essen aus Vasastaden. Daran, dass ein vornehmer Mann wie Ruben sich mit unserer schlichten Kammer zufriedengab, hatte ich mich inzwischen gewöhnt, trotz seiner eleganten Kleidung. Die Taschenuhr und die feuchten
Wände passten nicht zusammen, trotzdem ergab alles einen Sinn. Denn er konnte frei atmen und er selbst sein, dank Lea und dem diskussionslustigen Anton.
    Ich habe nur diese Kleider, hatte Anton an dem Abend gesagt, als er mir folgte und vor der Belästigung gerettet hatte. Das war aber nicht die ganze Wahrheit. Ich sah blaue und graue Hosen an ihm, Mäntel mit Kragen und Halstuch, Hemden, die immer weiß waren, und Schuhe aus Carl Ottos Laden. Irgendwoher gab es Geld. Ich wollte nicht fragen, denn wir verdienten ja selbst mit unserem Schwarzmarkthandel. Wenn das Geld von Ruben kam, gab es dazu nichts zu sagen. Antons Buch über die christliche Studentenverbindung kam Ruben wie gerufen, und Wohltätigkeit konnte viele Gesichter haben, genau wie Freundschaft.
    Aber das war es ja gerade. Ich blieb mitten auf der Straße stehen und merkte, dass ich meinen Gedanken gefolgt war. Ich befand mich einige Straßen von Antons Junggesellenheim entfernt, wo sein Zimmer nicht dem Standard seiner Kleidung entsprach, aber sauber und ordentlich war. Ich war nur einmal da gewesen. Wir hatten alle ins Kino gehen wollen, und Anton hatte etwas vergessen, lief auf sein Zimmer und ließ mich mitkommen. Er sagte nicht, ob er sich schämte, und ich fragte nicht. Das Bett war gemacht, das Fenster angelehnt. Nichts wies auf Elend oder Leichtsinn hin, es sah eher aus wie die Zelle eines Mönchs. Er fand das Portemonnaie und zeigte auf den schlichten Holzleuchter. Silber war schöner, aber Flamme blieb Flamme, und auch dieser Leuchter erinnerte ihn wohl an das, was er mitgemacht hatte.
    Ich hatte Mutter geschrieben und mich für die Leuchter bedankt und erzählt, dass Anton sie mitgebracht hatte. Sie hatte sicher verstanden, dass ich Anton entweder für einen Dieb hielt oder dass ich jetzt die Wahrheit erfahren hatte, dass sie zuerst
ihm und jetzt mir die Leuchter geschenkt hatte. Sie schrieb, die Leuchter gehörten mir, und sie werde nie vergessen, wie einsam ich im Zug nach Göteborg aussah. Als ich das las, begriff ich, dass auch Mutter ihre nächtlichen Ängste hatte und dass einige davon mit mir zusammenhingen. Ich dachte wieder an das Kind, das Lea zum Pfand für ihre Sicherheit machte. Mit einem Kind würde die Sicherheit eher für immer verschwinden. Die Welt wäre voller möglicher Unglücke, die das Kind treffen könnten.
    Jetzt ging es um die unterschiedlichen Gesichter der Freundschaft. Ruben wollte

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