Der geheime Brief
Und dann sag mir, wo wir uns deiner Meinung nach sonst treffen sollen. In unserem Zimmer? Oder in der Wohnung in Vasastaden? Während Amanda Otto, diese alte Kuh, im Nebenzimmer sitzt?«
Die Serviererin hatte beim Wort »Hure« aufgehorcht, und ich wurde leiser.
»Wie wäre es mit nirgendwo?«
Lea seufzte und rührte in ihrer Tasse. Sie sah ihr Bild im Spiegel an der Wand und schnitt eine Grimasse.
»Ich habe gelernt, mir selbst zu helfen«, sagte sie. »Ich bin klug genug, um aus dem, was ich sehe und höre, meine Schlüsse zu ziehen. In diesem Fall sehe ich einen älteren Mann, der mich will, und einen jüngeren, den ich will. Mit dem einen kann ich die Beziehung körperlich vollenden, mit dem anderen nicht. Aber wenn ich die Tatsache ausnutze, dass Vater und Sohn aus demselben Holz geschnitzt sind, kann ich es mit dem einen machen, bis ich Frucht trage, und dann mit dem anderen verschwinden.«
»Ich begreife nicht, wovon du redest.«
Lea seufzte wieder und erklärte dann, dass Carl Otto fast vom ersten Tag an seine Gelüste beim Namen genannt hatte. Sie hatte ihn sich Ruben zuliebe vom Leib gehalten, bis ihr aufgegangen war, was Ruben wollte und was er nicht wollte. Ihr Plan war einfach. Wenn sie von Carl Otto schwanger wäre, würde sie mit allen Mitteln versuchen, Ruben ein einziges Mal ins Bett zu locken. Das würde nicht leicht werden. Aber auch der, der zur einen Richtung neigte, könnte in die andere umkippen. Ruben würde keinen Verdacht schöpfen, sondern sich darüber freuen, Vater zu werden, wo er doch niemals mit dieser Möglichkeit gerechnet hätte. Wenn ein Kind da wäre, würde niemand bezweifeln können, dass sie eine richtige Familie waren. Carl Otto wäre vielleicht traurig, wenn sie ihn verließ, aber bisher hatte er im Notfall immer noch Ersatz gefunden.
Wenn sie von dem Kind erzählte, würde Carl Otto vielleicht ahnen, dass es seins war und nicht das seines Sohnes. Aber egal, was er auch glaubte, er würde damit zufrieden sein, dass Ruben nach außen hin als Familienvater lebte. Und welchen Grund sollte er haben, auf der Wahrheit zu bestehen? Uneheliche Kinder hatte er sicher mehr als genug, und wenn er dieses hier in der Sippe verstecken könnte, dann umso besser. Eventuell würde er sie sogar heimlich mit Geld unterstützen, und das könnte ihr und Ruben bei ihrer Arbeit helfen. Reich würden sie durch ihre guten Taten ohnehin niemals werden, ein wenig Hilfe wäre immer vonnöten.
Ich trank aus und dachte an Ruben. Sah ihn in Gedanken vor mir und wusste, dass Lea recht hatte. Ich drehte und wendete ihre Argumente und konnte trotz meiner Abscheu doch irgendwie verstehen, was sie meinte. Dann dachte ich an Carl Ottos gerötetes Gesicht und seine Hände auf Leas Körper. Die heruntergelassenen Hosen, die Haare auf seinen Beinen, das wabbelige Fleisch seines Bauches. Alles widerte mich an.
Lea lief zum Tresen und kam mit zwei Windbeuteln zurück, als Ersatz für die, die ich zerdrückt und unterwegs weggeworfen hatte. Sie sahen nicht schön aus, waren aber mit Beeren belegt. Lea nahm die größte und röteste weg und steckte sie mir in den Mund. Ich wollte mich wehren, vergeblich. Dann spürte ich den Himbeergeschmack auf der Zunge. Lea ließ mich dabei nicht aus den Augen.
»So einfach ist das im Grunde«, sagte sie leise. »Man öffnet sich und nimmt entgegen, auch wenn man das gar nicht vorhatte. Du kennst doch Carl Otto. Spitz wie die Kater im März. Aber ein lieber Mann. Er weiß, was er tut, und er tut mir nicht weh. Bemüht sich sogar um mich, und das reicht. Denk nicht schlecht von mir, Rakel. Er wird mein letzter Mann sein. Wenn man das eine Mal mit Ruben nicht mitzählt.«
Als ich Lea verließ, waren wir nach außen hin Freundinnen, innerlich jedoch entfremdet. Ich wollte glauben, dass das, was sie tat, zu ihrem eigenen Besten war. Aber ich konnte nur daran denken, dass es in ihrem Bauch in einigen Tagen oder Wochen ein Kind geben würde. Achtzehn Jahre, wie ich seit kurzem, und bald Mutter. Ein Kind als Schild gegen die Gefahren einer kriegslüsternen Welt. Das passte nicht zusammen. Wer von uns hatte recht? Lea wusste, was Sache war. Wenn es nötig war, griff sie auf Kosten der Starken zu, nie auf die der Schwachen. Ich war in Liebe aufgewachsen und durch Güte mutig geworden, nicht durch Bosheit. Wer war ich, dass ich über Redlichkeit urteilte?
Aber seinen Körper herzugeben. Ihn zu einem Mittel zu machen und ihn von den Gefühlen abzukoppeln. Sie hatte versucht,
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