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Der geheime Garten

Der geheime Garten

Titel: Der geheime Garten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frances Hodgson Burnett
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sprechen.«
    Es war interessant, den alten Mann zu beobachten. Er blickte voll Liebe und Stolz auf den kleinen Vogel mit der roten Brust. »Er ist eingebildet«, sagte er; er hat es gern, wenn man über ihn redet. Und neugierig! Meine Güte, ich habe nie einen so neugierigen Vogel gesehen! Immer kommt er, um zu sehen, was ich pflanze. Er kümmert sich um alle Dinge, um die sich Mr. Craven eigentlich kümmern sollte. Er ist der Obstgärtner, jawohl, das ist er.«
    Das Rotkehlchen hüpfte eifrig hin und her, pickte dann und wann etwas vom Boden auf, hielt dann wieder still und sah die beiden Menschen an.
    Mary glaubte, daß die schwarzen Tautropfenaugen sie mit besonderer Neugier betrachteten. Es sah so aus, als wollte der Vogel herausfinden, wer sie ist. Das seltsame Gefühl in ihrem Herzen wurde stärker.
    »Wohin sind seine Geschwister geflogen?« fragte sie.
    »Das weiß man nicht. Die Alten werfen sie aus dem Nest, wenn sie groß genug sind, und dann fliegen sie los und sind überall verstreut, ehe man sich's versieht. Dieser hier hat mehr Verstand; drum wußte er, daß er einsam war.«
    Mary machte einen Schritt auf das Rotkehlchen zu und sah es fest an.

    »Ich bin auch einsam«, sagte sie. Bis zu diesem Augenblick hatte sie nicht gewußt, was sie unzufrieden und trotzig machte. Während sie das Rotkehlchen ansah und dieses zu ihr zurückblickte, ahnte sie, was es war.
    Der alte Gärtner schob seine Mütze über seine Glatze zurück und starrte Mary an. »Bist du das kleine Mädchen aus Indien?« fragte er.
    Mary nickte.
    »Dann wundere ich mich nicht, daß du einsam bist.«
    Er fing wieder an zu graben. Er stieß seinen Spaten tief in den reichen, schwarzen Boden, während das Rotkehlchen fleißig umherhüpfte und sehr beschäftigt tat.
    »Wie heißt du?« fragte Mary den Gärtner.
    Er richtete sich auf. »Ben Weatherstaff«, antwortete er und fügte mit einem bitteren Lächeln hinzu: »Ich bin auch einsam. Nur dann nicht, wenn er bei mir ist«, und er deutete auf das Rotkehlchen.
    »Ich habe keine Freunde«, sagte Mary. »Ich habe nie welche gehabt. Meine Ayah mochte mich nicht, und ich habe nie mit jemandem gespielt.«
    Die Menschen in Yorkshire haben die Gewohnheit, frei zu sagen, was sie denken. Und Ben Weatherstaff war ein Mann aus dem Moor.
    »Du und ich, wir haben manches gemeinsam«, sagte er. »Wir sind aus dem selben Stoff gewebt. Wir sehen beide nicht hübsch aus, und wir blicken beide so mürrisch drein, wie wir sind. Wir haben dasselbe unfreundliche Wesen, beide dasselbe, möcht' ich wetten.«
    Das war sehr offen gesagt. Und Mary Lennox hatte noch nie im Leben die Wahrheit über sich selbst gehört. Sie hatte auch niemals darüber nachgedacht, wie sie wohl aussähe, aber sie war doch erstaunt zu hören, daß sie äußerlich so wenig anziehend war wie Ben Weatherstaff, und es verwunderte sie, daß sie so verdrießlich aussehen sollte, wie er es getan hatte, ehe das Rotkehlchen kam.
    Sie fragte sich auch, ob sie wirklich eine so unfreundliche Art habe. Sie fühlte sich etwas ungemütlich. Plötzlich hörte sie ein Rascheln, und sie wandte sich um. Sie stand in der Nähe eines jungen Apfelbaumes. Das Rotkehlchen flog auf dessen Zweige und sang aus voller Kehle. Ben Weatherstaff lachte.
    »Warum macht er das?« fragte Mary.
    »Er hat sich entschieden, mit dir Freundschaft zu schließen«, antwortete Ben. »Der ist in dich vernarrt.«
    »In mich?« fragte Mary. Sie bewegte sich leise auf den Baum zu und schaute hoch.
    »Willst du mein Freund sein?« sagte sie zu dem Rotkehlchen, als spräche sie zu einem Menschen. »Willst du?« Und sie sagte es weder mit harter Stimme noch in ihrer hochmütigen indischen Art, sondern zärtlich und eifrig und lockend, so daß Ben Weatherstaff ebenso erstaunt war wie sie, als sie ihn hatte pfeifen hören.
    »Nun«, meinte er, »das hast du richtig nett gesagt, wie ein liebes Kind, nicht wie eine mürrische alte Tante. Du hast es gesagt, wie Dickon mit den Tieren spricht, wenn er ihnen im Moor begegnet.«
    »Kennst du denn Dickon?« fragte Mary erstaunt.
    »Dickon kennt jeder. Er ist überall bekannt. Sogar die Waldbeeren und die Heideblumen kennen ihn. Ich wette, daß sogar die Füchse ihm erzählen, wo sie ihre Jungen verwahren, und die Lerchen verstecken ihre Nester nicht vor ihm.«
    Mary hätte gern noch mehr Fragen gestellt. Sie war fast so neugierig auf Dickon wie auf den verlassenen Garten. Aber gerade in diesem Augenblick beendete das Rotkehlchen sein Lied,

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