Der geheime Garten
umher, und Mutter sagt, das Moor macht sie satt. Sie meint, die äßen vielleicht Gras wie die wilden Ponys. Unser Dickon ist zwölf Jahre alt und hat ein Pony.«
»Wo hat er das her?« fragte Mary.
»Er hat es auf dem Moor gefunden, neben seiner Mutter. Und er hat mit ihm Freundschaft geschlossen. Er hat ihm Brotbrocken und Grasbüschel gegeben. Das Fohlen liebt ihn und folgt ihm überall hin, und es läßt Dickon auf seinem Rücken reiten. Dickon ist ein guter Junge, und die Tiere lieben ihn.«
Mary hatte nie ein kleines Tier gehabt und hätte schon immer gern eines besessen. Daher fing sie an, sich ein bißchen für Dickon zu interessieren. Als sie in das Zimmer ging, das man für sie zurechtgemacht hatte, fand sie, daß es so ähnlich aussah wie das, in dem sie geschlafen hatte. Es war eigentlich kein Zimmer für ein Kind; es paßte besser für einen Erwachsenen. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes stand ein kräftiges Frühstück. Aber Mary hatte nie viel Appetit gehabt und blickte mit Unbehagen auf den ersten Teller, den Martha vor sie hinstellte.
»Ich mag das nicht«, sagte sie.
»Du magst deinen Haferbrei nicht?« rief Martha ungläubig aus.
»Nein.«
»Du weißt nicht, wie gut er ist. Tu ein bißchen Sirup drauf oder ein wenig Zucker.«
»Ich will ihn nicht«, wiederholte Mary.
»Oh«, sagte Martha, »ich kann nicht mit ansehen, wie gute Dinge vergeudet werden. Wenn unsere Kinder hier am Tisch säßen, die wären in fünf Minuten mit dem Brei fertig.«
»Warum?« fragte Mary kalt.
»Warum?« wiederholte Martha. »Weil sie in ihrem ganzen Leben selten ihren Magen richtig füllen konnten. Sie sind hungrig wie junge Falken und Füchse.«
»Ich weiß nicht, was das ist, hungrig zu sein.« Mary sagte es mit der Gleichgültigkeit der Nichtwissenden.
Martha blickte sie entrüstet an.
»Dir würde es gut tun, wenn du mal spürtest, wie es ist. Das sehe ich ganz klar.« Sie sagte es sehr offen. »Ich habe keine Geduld mit Leuten, die dasitzen und gutes Brot und gute Speisen unzufrieden anstarren. Mein Wort darauf, ich möchte, Dickon und Phil und Jane und die übrigen könnten das, was hier steht, in ihren Schürzen wegtragen.«
»Warum nimmst du es nicht für sie mit?« schlug Mary vor.
»Es gehört nicht mir«, sagte Martha standhaft. »Außerdem habe ich heute nicht frei. Ich habe einmal im Monat frei wie die anderen Hausangestellten. Dann gehe ich nach Hause und helfe Mutter, damit sie auch mal einen halben Tag frei hat.«
Mary trank ein bißchen Tee, aß ein kleines Stück geröstetes Brot und ein wenig Marmelade.
»Jetzt ziehst du dich warm an und gehst draußen spielen. Das wird dir gut tun, und du bekommst Appetit.«
Mary ging zum Fenster. Draußen sah sie Gärten und Wege und große Bäume. Aber alles sah düster und winterlich aus. »Draußen? Warum soll ich an einem solchen Tag hinausgehen?«
»Wenn du nicht hinausgehen willst, dann bleibst du eben hier. Mir ist es egal.«
Mary blickte umher. Da war nichts, womit sie sich hätte beschäftigen können. Mrs. Medlock hatte das Kinderzimmer zwar eingerichtet, aber dabei nicht an irgendeinen Zeitvertreib für ein Kind gedacht. Vielleicht ist es doch besser, hinauszugehen und zu sehen, was sich da anfangen läßt, dachte Mary.
»Wer begleitet mich?« sagte sie zu Martha. Martha starrte sie an.
»Du gehst gefälligst allein«, antwortete sie. »Du mußt spielen lernen wie andere Kinder, die auch allein sind und sich selbst beschäftigen müssen. Mein Bruder Dickon geht immer allein ins Moor und spielt da stundenlang. Auf diese Weise hat er ja auch Freundschaft mit dem Pony geschlossen. Da ist auch noch ein Schaf im Moor, das er gut kennt. Und die Vögel fressen ihm aus der Hand. Wenn es auch noch so wenig bei uns zu essen gibt, er hat immer noch ein bißchen übrig, um seine kleinen Freunde damit zu füttern.«
Mary wußte es nicht, aber tatsächlich bewirkte der Name Dickon, daß sie sich entschloß, in den Garten zu gehen. Sicher waren Vögel draußen; Ponys oder Schafe wohl kaum. Die Vögel würden anders sein als in Indien, vielleicht machte es Spaß, sie zu beobachten.
Martha zog ihr Mantel und Hut an, auch ein Paar kräftige Stiefelchen, und zeigte ihr den Weg die Treppe hinunter nach draußen.
»Wenn du diesen Weg hinuntergehst, kommst du in den Garten«, sagte sie und zeigte auf ein Tor in einer Hecke. »Da gibt es im Sommer viele Blumen, aber jetzt blüht natürlich nichts.«
Sie zögerte eine Sekunde, ehe sie fortfuhr.
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