Der geheime Garten
»Einer von den Gärten ist verschlossen. Darin ist seit zehn Jahren kein Mensch mehr gewesen.«
»Warum?« fragte Mary, gegen ihren Willen neugierig. Da gab es also neben den hundert verschlossenen Türen im Hause auch noch ein verschlossenes Gartentor.
»Mr. Craven hat ihn abgeschlossen, als seine Frau so plötzlich starb. Es war ihr Garten. Er verschloß das Tor, machte ein Loch in den Boden und vergrub den Schlüssel. Aber — ich höre Mrs. Medlock läuten, ich muß laufen.«
Als sie weg war, ging Mary auf das Tor in der Hecke zu. Sie mußte an den Garten denken, in dem zehn Jahre lang kein Mensch mehr gewesen war. Sie überlegte, wie es wohl darin aussehen mochte und ob die Blumen dort noch am Leben waren. Als sie durch das Tor hindurch war, befand sie sich in einem riesengroßen Garten mit weiten Rasenflächen und gewundenen Wegen, die am Rande sauber abgestochen waren. Da gab es Bäume und Blumenbeete und immergrüne Pflanzen und einen großen Teich mit einer alten Springbrunnenfigur in der Mitte. Aber die Blumenbeete lagen kahl und winterlich da, und der Springbrunnen zeigte kein Leben. Dies war bestimmt nicht der geheimnisvolle Garten. Wie konnte man einen Garten überhaupt verschließen? In Gärten hinein kann man doch immer!
Während Mary so überlegte, sah sie am Ende des Gartenweges eine lange Mauer, die ganz mit Efeu bewachsen war. Sie kannte englische Verhältnisse nicht und wußte daher auch nicht, daß sie auf den Küchengarten zuging, in dem Gemüse und Obst gezogen wurden. Sie näherte sich der Mauer und entdeckte ein offenes Tor. Dieser Garten hier war sicher nicht der geheime Garten, sie durfte ihn also betreten.
Mary schritt durch das Tor und sah, daß der Garten rundherum von einer Mauer umgeben und nur einer von mehreren Gärten war, die alle Mauern hatten und miteinander durch Tore verbunden waren. Sie bemerkte ein anderes, offenstehendes Tor und dahinter wieder Wege, die zwischen kleinen Hügeln lagen, in denen Wintergemüse eingebettet war. Obstbäume waren der Mauer entlang auf Spalier gezogen, und manche Beete waren mit Glas zugedeckt. Dieser Garten ist nur nützlich und nicht schön, dachte Mary. Im Sommer, wenn alles grün wäre, mochte er wohl auch hübscher wirken. Aber jetzt gab es nichts zu bewundern darin.
Plötzlich kam ein alter Mann, der einen Spaten auf der Schulter trug, aus dem Tor des nächsten Gartens. Er sah überrascht auf, als er Mary entdeckte, und tippte dann zur Begrüßung mit einem Finger an seine Mütze. Er hatte ein bärbeißiges, altes Gesicht und schien sich keineswegs zu freuen, Mary zu sehen. Darum wollte sie ihm zeigen, daß sie seinen Garten nicht schön fand. Sie setzte ihr trotziges Gesicht auf. Sie bemühte sich zu zeigen, daß ihr auch nichts an dieser Begegnung lag.
»Was ist das hier für ein Garten?« fragte sie.
»Einer von den Gemüsegärten«, sagte er.
»Und da?« fragte sie und zeigte auf das nächste grüne Tor.
»Ein anderer Gemüsegarten«, sagte er kurz.
»Darf ich da hineingehen?« fragte Mary.
»Wenn du Lust hast. Aber da gibt's nichts zu sehen.«
Mary antwortete nicht. Wieder ging sie durch das nächste grüne Tor. Dort fand sie erneut Mauern und Wintergemüse und Treibhausglas. Aber dann kam sie schließlich zu einer Mauer, und darin war ein Tor, das nicht offenstand.
Vielleicht führte dieses Tor in den Garten, den zehn Jahre lang kein Mensch mehr betreten hatte. Da Mary durchaus kein schüchternes Kind war und außerdem gewohnt, immer zu tun, was ihr gerade einfiel, ging sie auf das grüne Tor zu und drehte am Griff. Sie hoffte, das Tor würde nicht aufgehen, denn dann würde sie sicher sein, daß es in den geheimnisvollen Garten führte, aber es öffnete sich ganz leicht. Sie schritt hindurch und befand sich nun in einem Obstgarten. Er war auch von Mauern umgeben, die mit Zweigen von Spalierobst überzogen waren. In der Mitte des Gartens wuchsen Obstbäume aus dem winterbraunen Gras, aber es war kein weiteres grünes Tor zu sehen. Mary schaute sich um. Als sie zum Ende des Gartens kam, sah sie, daß die Mauer weiterging und daß ein anderer Garten sich anzuschließen schien. Sie sah Baumkronen jenseits der Mauer, und während sie still stand und überlegte, sah sie einen Vogel mit einer roten Brust auf einem der höchsten Zweige jenseits der Mauer sitzen. Plötzlich sang er — ein Winterlied. Es war, als wollte er zeigen, daß er Mary entdeckt hatte. Sie blieb stehen und lauschte. Sein heiteres, freundliches Pfeifen
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