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Der geheime Garten

Der geheime Garten

Titel: Der geheime Garten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frances Hodgson Burnett
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betrachtete eine besonders lange Efeuranke, die sich im Wind wiegte. Plötzlich sah sie einen roten Schimmer und hörte ein feines Zirpen. Und richtig, da oben auf dem höchsten Ast war Ben Weatherstaffs Rotkehlchen. Es neigte sich vor, legte seinen kleinen Kopf auf die Seite und sah sie an.
    »Oh«, rief sie, »du bist es — tatsächlich, du bist es!« Und sie sprach mit ihm, als wäre sie sicher, daß er sie verstehen und auch antworten konnte.
    Der Vogel antwortete wirklich. Er zwitscherte und piepste und hopste die Mauer entlang, als wenn er ihr alles mögliche zu erzählen hätte. Mary schien ihn zu verstehen, obwohl er nicht mit Worten sprach. Ihr war, als hätte er gesagt:

    »Guten Morgen! Ist der Wind nicht schön? Ist die Sonne nicht strahlend? Ist nicht alles wundervoll? Laß uns beide zwitschern und zirpen und hopsen! Los! Los!«
    Mary fing zu lachen an. Und sie hüpfte und tat, als ob sie fliege, immer der Mauer entlang hin und her. Die arme, kleine, magere, häßliche Mary — einen Augenblick lang sah sie fast hübsch aus.
    »Ich liebe dich! Ich liebe dich!« rief sie und trällerte und versuchte zu pfeifen, was ihr allerdings nicht recht gelang. Aber das Rotkehlchen schien mit ihr zufrieden zu sein und flötete und piepste mit ihr um die Wette. Schließlich breitete es seine Flügel aus, schwang sich auf die höchste Spitze des Baumes, setzte sich dort nieder und sang aus voller Kehle.
    Das erinnerte Mary an ihre erste Begegnung mit ihm. Auch damals hatte sich der Vogel auf den höchsten Zweig gesetzt, während sie im Obstgarten stand. Diesmal war sie auf der anderen Seite, sie befand sich auf dem Weg außerhalb der Gartenmauer, aber es war derselbe Baum.
    »Er ist im Garten, den keiner betreten darf«, sagte sie zu sich selbst. »Es ist der Garten ohne Tor. Dort lebt er! Wie gerne möchte ich mir den Garten ansehen!«
    Sie rannte den Weg entlang zu dem grünen Tor, durch das sie am ersten Morgen gegangen war. Dann rannte sie den Gartenpfad entlang durch das nächste Tor und betrat den Obstgarten. Sie stand und suchte mit ihren Blicken den Baum auf der anderen Seite der Mauer. Und richtig, da war das Rotkehlchen und beendete eben seinen Gesang. Es fing an, sein Gefieder mit dem Schnabel zu putzen. »Das ist der Garten«, sagte sie. »Ich bin sicher, daß er es ist.«
    Sie ging umher und betrachtete sorgfältig die Mauer zwischen dem Obstgarten und dem anderen, dem unbekannten Garten. Aber sie fand nur das heraus, was sie schon vorher ermittelte — es gab kein Tor in dieser Mauer.
    Dann rannte sie wieder durch die Gemüsegärten zurück und befand sich nun wieder außerhalb der langen, efeubewachsenen Mauer, welche die Gärten umschloß. Sie ging bis zum Ende und prüfte sorgfältig. Aber auch da war kein Tor zu sehen.
    Das ist seltsam, dachte sie. Ben Weatherstaff behauptete, es gäbe kein Tor, und es ist auch tatsächlich keins da. Aber vor zehn Jahren muß es doch eins gegeben haben, weil ja Mr. Craven den Schlüssel vergraben hat.
    Über diese Sache mußte sie viel nachdenken. Es interessierte sie so sehr, daß es ihr nicht mehr leid tat, nach Misselthwaite gekommen zu sein.
    In Indien war es immer so heiß, und Mary war dort zu matt gewesen, um sich für irgend etwas zu begeistern. Tatsächlich war es der frische Wind vom Moor, der sie belebte und ihr die Flausen aus dem Kopf vertrieb. Sie war fast den ganzen Tag draußen, und wenn sie abends zum Essen hereinkam, fühlte sie sich hungrig und schläfrig und wohl. Dann hörte sie Martha gerne zu beim Schwatzen. Und eines Abends fragte sie das Mädchen: »Warum haßt Mr. Craven den Garten?«
    »Hör mal, wie der Wind um das Haus rumort«, entgegnete Martha. »Im Moor könntest du dich in dieser Nacht nicht auf den Füßen halten.«
    Mary wußte nicht, was rumoren bedeuten sollte, aber als sie genauer hinhörte, verstand sie, was Martha meinte. Um das Haus herum heulte es, als ob ein unsichtbarer Riese es rüttelte, an die Mauer schlüge und die Fenster zu zertrümmern versuchte. Aber da man wußte, daß er nicht hereinkommen konnte, fühlte man sich seltsam wohlig, sicher und warm in einem Zimmer mit einem offenen roten Feuer.
    »Aber warum haßt er den Garten?« fragte sie wieder, nachdem sie auf den Wind gelauscht hatte. Sie wollte herausfinden, ob Martha es wußte.
    »Paß auf«, sagte Martha. »Mrs. Medlock verbot, darüber zu sprechen. Hier gibt es viele Dinge, über die nicht gesprochen werden darf. Mr. Craven hat es angeordnet. Seine Sorgen

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