Der geheime Garten
seien nicht Sache seiner Dienstboten, hat er gesagt. Aber was nun den Garten betrifft, so hat er wirklich seiner Frau gehört. Sie hat ihn angelegt, als sie heirateten, und sie liebten den Garten. Sie und Mr. Craven pflegten die Blumen selbst. Kaum ein Gärtner durfte hinein. Er und sie gingen in den Garten, schlossen das Tor hinter sich zu, und dann blieben sie stundenlang drinnen und redeten und lasen. Sie war wie ein junges Mädchen. Da gab es einen alten Baum. Sie zog Kletterrosen an ihm hoch und machte sich in den Asten einen Sitzplatz zurecht. Aber eines Tages brach der Ast. Sie fiel hinunter und verletzte sich so, daß sie am nächsten Tag starb. Die Ärzte befürchteten, Mr. Craven würde vor Kummer wahnsinnig und müßte auch sterben. Deshalb haßt er den Garten. Seither ist niemand mehr hineingegangen. Und er erlaubt keinem Menschen, darüber zu sprechen.«
Mary fragte nichts mehr. Sie lauschte auf das Getöse des Windes. Er schien lauter zu heulen als vorher. In diesem Augenblick wurde ihr etwas geschenkt. Es war das vierte Geschenk, das ihr zuteil wurde, seit sie nach Misselthwaite gekommen war. Mary hatte gefühlt, daß sie das Rotkehlchen verstand und daß der Vogel sich mit ihr befreunden wollte. Dann war sie dem Wind entgegengerannt, bis ihr warm wurde davon. Sie hatte endlich einmal einen gesunden Hunger gehabt. Und jetzt hatte sie zum erstenmal Mitleid mit einem Menschen empfunden.
Aber als sie nun dem Wind lauschte, hörte sie plötzlich etwas anderes. Sie wußte nicht, was es war, denn zunächst konnte sie das Geräusch nicht recht vom Wind unterscheiden. Es war ein seltsamer Ton — es hörte sich fast an, als ob irgendwo ein Kind weinte. Manchmal hörte sich der Wind selber so an, als klagte ein Kind, aber dann war Mary plötzlich ganz sicher, daß das Klagen aus dem Innern des Hauses kam und nicht von draußen. Es war nicht ganz nah, aber es kam aus dem Haus. Sie wandte sich Martha zu und schaute sie an.
»Hörst du jemand weinen?« fragte sie. Martha schaute plötzlich verwirrt drein.
»Nein«, antwortete sie, »das ist der Wind. Manchmal hört es sich an, als hätte sich jemand im Moor verirrt und weinte. Es gibt da viele Töne.«
»Aber hör doch«, sagte Mary. »Es ist im Hause, unten, in einem von den langen Korridoren.«
In diesem Augenblick mußte unten irgendwo eine Tür aufgegangen sein. Ein scharfer Luftzug drang durch den Flur. Die Tür des Zimmers, in dem sie saßen, flog jäh auf. Beide Mädchen sprangen auf. Den Korridor entlang kam das Weinen, ganz deutlich war es zu hören.
»Da«, sagte Mary. »Habe ich es dir nicht gesagt? Da weint jemand — aber es ist kein erwachsener Mensch.«
Martha lief und schlug die Tür zu. Sie drehte den Schlüssel um. Doch bevor sie es tat, hörten beide, daß irgendwo unten im Haus eine andere Tür ebenfalls mit heftigem Knall zugeschlagen wurde. Danach war es still. Selbst der Wind beruhigte sich für einen Augenblick.
»Es war der Wind«, sagte Martha hartnäckig. »Und wenn nicht, dann war es Betty Butterworth, das Mädchen in der Spülküche. Sie hatte den ganzen Tag Zahnschmerzen.«
Aber irgendwie schien Martha verändert zu sein. Mary schaute sie kritisch an. Sie glaubte nicht, daß Martha die Wahrheit sagte.
»Jemand hat geweint, ganz bestimmt.«
Da hat doch jemand geweint
Am nächsten Tag regnete es in Strömen. Als Mary aus dem Fenster schaute, lag das Moor hinter Nebel und Wolken fast verborgen.
»Was tut ihr in eurer Hütte, wenn es so regnet wie jetzt?« fragte sie Martha.
»Wir versuchen, uns gegenseitig möglichst wenig auf die Füße zu treten«, antwortete Martha. »Wir sind dann wirklich ein paar zu viel. Mutter hat viel Geduld, aber sie schickt die großen in den Kuhstall, dort können sie spielen. Dickon macht sich nichts daraus, wenn er naß wird. Er geht hinaus, gerade als ob die Sonne schiene. Er sagt, bei Regenwetter sieht er Dinge, die er bei schönem Wetter nicht findet. Einmal hat er ein winziges Fuchsjunges halb ertrunken in seiner Höhle gefunden. Er hat es in seine Bluse gesteckt und dort gewärmt, und dann hat er es mit nach Hause gebracht. Die Fuchsmutter war getötet worden, und die Höhle stand voll Wasser. Die anderen Jungen waren tot. Wir haben den kleinen Fuchs nun zu Hause. Einmal hat Dickon eine halbertrunkene Krähe gefunden, die hat er auch mit nach Hause gebracht und gezähmt. Er hat ihr den Namen Ruß gegeben, weil sie so schwarz ist. Jetzt hopst und fliegt sie überall dort herum, wo Dickon
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