Der geheime Garten
weckte ein wohliges Gefühl in ihr. Auch ein unsympathisches kleines Mädchen fühlt sich manchmal einsam. Ein großes Haus mit vielen verschlossenen Türen, ein riesiges nacktes Moor, weite kahle Gärten — der Gedanke daran hatte Mary spüren lassen, wie einsam sie war. Sie hatte das Gefühl, außer ihr lebte niemand auf der Welt. Wenn sie ein zärtliches Kind gewesen wäre und an Liebe gewöhnt, es hätte ihr Herz gebrochen. Aber selbst so war sie verzweifelt. Das Vögelchen mit der leuchtenden Brust zauberte ein Lächeln in ihr mürrisches Gesicht. Sie hörte ihm zu, bis er fortflog. Der Vogel hatte keine Ähnlichkeit mit den Vögeln in Indien. Sie liebte ihn und fragte sich, ob sie ihn wohl jemals Wiedersehen würde. Am Ende lebte er in dem geheimen Garten und kannte sich darin aus.
Vielleicht dachte sie deswegen so viel über den verlassenen Garten nach, weil es sonst nichts gab, worüber sie hätte nachdenken können. Sie war neugierig und hätte gern gewußt, wie er aussah. Warum hatte Mr. Archibald Craven den Schlüssel vergraben? Wenn er seine Frau so sehr geliebt hatte, warum haßte er dann ihren Garten? Sie fragte sich, ob sie wohl je ihren Onkel zu Gesicht bekommen würde. Aber sie war sicher, daß sie ihn nicht leiden mochte. Und er würde sie auch nicht gernhaben.
»Die Leute mögen mich nicht«, dachte sie, »und ich mag sie auch nicht. Und ich kann nicht reden, wie es die Crawford-Kinder konnten. Sie hatten immer geschwatzt und gelacht und gelärmt.«
Sie dachte an das Vögelchen, wie es für sie gesungen und in dem hohen Zweig gesessen hatte. Plötzlich durchzuckte sie ein Gedanke.
»Ich glaube, der Baum war in dem geheimen Garten — ich bin sicher, daß es so ist«, sagte sie. »Eine Mauer war rundherum, und da war kein Tor.«
Sie lief in den Gemüsegarten zurück und fand den alten Mann bei der Arbeit. Er beachtete sie nicht, und so sprach sie ihn schließlich an.
»Ich bin in den anderen Gärten gewesen«, sagte sie.
»Warum solltest du nicht dort gewesen sein?« antwortete er mürrisch.
»Ich bin in den Obstgarten gegangen.«
»Da ist kein Hund am Tor, der dich beißt«, antwortete er.
»Zu dem anderen Garten gibt es kein Tor«, sagte Mary.
»Zu welchem Garten?« sagte er mit belegter Stimme und hörte einen Augenblick zu graben auf.
»Der Garten auf der anderen Seite der Mauer. Da wachsen Bäume. Ich habe die Äste gesehen. Ein Vogel mit einer roten Brust saß in der Baumspitze und sang.«
Zu ihrer Überraschung veränderte sich plötzlich das sauer dreinblickende Gesicht des Alten. Ein Lächeln breitete sich langsam darauf aus, und mit einemmal sah der Gärtner ganz verändert aus. Sie dachte, wieviel netter ein Mensch doch aussieht, wenn er lächelt. Sie hatte das vorher nicht gewußt. Er wandte sich nach der Seite, wo der Obstgarten lag, und begann zu pfeifen — ein sanftes, leises Pfeifen. Sie war überrascht, daß ein so mürrisch blickender Mann so zärtlich pfeifen konnte. Fast im gleichen Augenblick ereignete sich etwas Wunderbares. Sie hörte ein zardes Gärtners.
»Da ist er«, kicherte der alte Mann, und dann sprach er mit dem Vogel, als hätte er ein Kind vor sich.
»Wo bist du gewesen, du drolliger, kleiner Herumtreiber?« fragte er. »Ich habe dich heute überhaupt noch nicht gesehen. Fängst du schon an, den Vogeldamen den Hof zu machen? Das ist zu früh für die Jahreszeit.«
Der Vogel legte seinen winzigen Kopf zur Seite und sah den alten Mann mit seinen klaren Äuglein an, die wie dunkle Tautropfen waren. Er schien ganz zutraulich zu sein und kein bißchen ängstlich. Er hüpfte herum und hackte nach Körnern und Insekten. Mary wurde ganz wunderlich zumute, weil er so hübsch und lustig war, ein richtiger Kamerad. Er hatte einen winzigen rundlichen Körper, einen zierlichen Schnabel und schlanke, zarte Beine.
»Kommt er immer, wenn du ihn rufst?« fragte sie fast atemlos.
»Na ja, das tut er. Ich kenne ihn, seit er flügge wurde. Er kam aus dem Nest jenseits der Mauer. Dann war er zu schwach, um zurückzufliegen, und blieb ein paar Tage bei mir. Von daher kennen wir uns und sind befreundet. Als er ins Nest zurückkehrte, waren seine Geschwister ausgeflogen. Drum fühlt er sich drüben einsam und kommt oft zu mir.«
»Was für ein Vogel ist das?«
»Weißt du das nicht? Es ist ein Rotkehlchen. Das sind die freundlichsten und neugierigsten Vögel, die es gibt. Sieh mal, wie er herumhüpft und zwischendurch nach uns sieht. Er weiß genau, daß wir von ihm
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