Der geheime Garten
Ihre Augen hatten einen scharfen, neugierigen Ausdruck.
»Wo lebst du jetzt?« sagte Mary laut zu ihr. »Ich wünschte, du wärst hier.«
Bestimmt hatte kein anderes kleines Mädchen vor ihr jemals einen so seltsamen Vormittag erlebt. Sie hatte den Eindruck, daß in dem ganzen, weiten, altmodischen Haus kein lebendes Wesen war außer ihr selbst, die hier treppauf, treppab lief, durch schmale und wieder weite Flure, die aussahen, als hätte niemand sie je betreten. Da man aber so viele Zimmer gebaut hatte, mußte einst jemand darin gelebt haben. Doch alles wirkte so leer, daß Mary es kaum glauben konnte.
Erst als sie im zweiten Stockwerk angelangt war, dachte sie daran, eine Türklinke hinunterzudrücken. Alle Türen sind verschlossen, hatte Mrs. Medlock ihr gesagt. Dennoch faßte sie nun nach einem Türgriff und versuchte daran zu drehen. Sie war einen Augenblick fast erschrocken, als sie fühlte, daß er sich ohne Schwierigkeit bewegte und daß die Tür, als sie ein wenig drückte, sich langsam und schwerfällig öffnete. Es war eine massive Tür, die in ein großes Schlafzimmer führte. Gestickte Teppiche hingen an der Wand und Möbel mit Einlegearbeiten, wie sie sie in Indien gesehen hatte, standen im Raum. Ein breites Fenster mit Butzenscheiben gab den Blick auf das Moor frei. Über dem Kamin hing ein Bild desselben Mädchens, das sie schon in der Galerie gesehen hatte. Es schien sie noch neugieriger anzustarren als vorher.
»Vielleicht hat sie hier geschlafen«, sagte Mary.
Danach öffnete sie Tür um Tür. Sie sah so viele Zimmer, daß sie ganz müde wurde und überlegte, daß es sicher hundert waren, wiewohl sie sie nicht gezählt hatte. In allen Räumen sah sie alte Gemälde und Wandteppiche mit seltsamen Darstellungen und merkwürdige Möbel mit reichen Verzierungen. In einem Zimmer, das so aussah wie das Wohnzimmer einer Dame, waren die Vorhänge aus besticktem Samt, und in einer Vitrine entdeckte Mary etwa hundert kleine, aus Elfenbein geschnitzte Elefanten. Sie waren von verschiedener Größe, und einige trugen Elefantentreiber auf dem Rücken. Manche waren schwerer als die übrigen, und andere waren ganz klein. Sie sahen aus wie Babys. Mary hatte in Indien viele Elefantenschnitzereien gesehen, und sie wußte über Elefanten Bescheid. Sie stellte sich auf eine Fußbank und spielte eine Weile mit den Tieren. Als sie genug davon hatte, ordnete sie die Elefanten wieder und schloß die Tür der Vitrine.
Auf ihrer Wanderung durch die langen Korridore und die leeren Zimmer war sie keinem Lebewesen begegnet. Aber jetzt sah sie plötzlich etwas. Eben hatte sie die Tür der Vitrine geschlossen, da hörte sie ein seltsames Geräusch. Sie fuhr herum und starrte auf das Sofa neben dem Kamin. In der Sofaecke lag ein Kissen, und in dem Samt, mit dem dieses bezogen war, war ein Loch. Aus diesem Loch hervor guckte ein Köpfchen mit einem Paar erschrockener Augen.
Mary ging langsam durch den Raum darauf zu. Die großen, ängstlichen Augen gehörten einer Maus, die das Loch in das Kissen geknabbert und sich hier ein bequemes Nest eingerichtet hatte. Sechs kleine Junge lagen friedlich an die Mäusemutter geschmiegt. Wenn auch sonst nichts Lebendiges in den hundert Räumen sein mochte, die sechs Mäuse fühlten sich wohl und sahen nicht so aus, als ob sie sich einsam fühlten.
»Wenn sie nicht Angst bekämen, nähme ich sie mit in mein Zimmer«, dachte Mary. Inzwischen war sie vom Herumwandern so müde geworden, daß sie umzukehren beschloß. Zwei- oder dreimal verfehlte sie die Richtung und mußte versuchen, den richtigen Korridor zu finden. Schließlich glaubte sie, daß sie den Flur, der zu ihrem Zimmer führte, wieder erreicht hatte. Allerdings war er lang, und Mary mußte aufpassen, damit sie das richtige Zimmer fand. Sie wußte wirklich nicht mehr, wo sie war.
»Ich glaube, ich bin in der falschen Richtung gegangen«, sagte sie laut. Sie blieb stehen und starrte auf einen Wandteppich am Ende des Ganges.
»Ich weiß wahrhaftig nicht, wo ich bin. Wie still es hier überall ist.« Kaum hatte sie das gedacht, da wurde die Stille jäh durch einen Laut unterbrochen. Ein Schrei! Es klang nicht genauso wie in der vergangenen Nacht. Nur ein kurzer Schrei, und dann das erbärmliche Weinen eines Kindes, durch die Wände gedämpft.
»Es ist näher als vorher«, sagte Mary. Ihr Herz begann laut zu pochen. »Und da weint doch wirklich jemand.«
Sie legte ihre Hand auf den Wandteppich, vor dem sie stand.
Erschrocken
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