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Der geheime Garten

Der geheime Garten

Titel: Der geheime Garten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frances Hodgson Burnett
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gerade ist.«
    Die Zeiten waren vorbei, da Mary das zutrauliche Gerede von Martha unpassend gefunden hatte. Die Geschichten, die Ayah ihr in Indien erzählt hatte, waren ganz anders als die, die ihr Martha erzählte — nämlich von der Hütte im Moor, in der in vier Zimmern vierzehn Menschen lebten, die niemals genug zu essen hatten. Die Kinder schienen herumzutummeln und sich zu vergnügen wie ein Wurf junger Hunde. Mary interessierte sich hauptsächlich für die Mutter und für Dickon. Wenn Martha erzählte, was Mutter gesagt oder getan hatte, fühlte sich Mary immer behaglich.
    »Wenn ich einen Raben oder einen jungen Fuchs hätte, könnte ich damit spielen«, sagte Mary. »Aber ich habe überhaupt nichts.«
    Martha sah sie bestürzt an. »Kannst du stricken?« fragte sie.
    »Nein«, antwortete Mary.
    »Kannst du nähen?«
    »Nein.«
    »Kannst du lesen?«
    »Ja.«
    »Warum liest du dann nicht? Und lernst Rechtschreibung? Du bist alt genug, um selbst daran zu denken.«
    »Aber ich habe keine Bücher. Die, die ich hatte, sind in Indien geblieben.«
    »Das ist schade«, sagte Martha. »Wenn Mrs. Medlock dich bloß in die Bibliothek ließe. Da sind Tausende von Büchern.«
    Mary fragte nicht, wo die Bibliothek sei. Sie wollte die Bibliothek selbst finden. Vor Mrs. Medlock hatte sie keine Angst. Mrs. Medlock schien immer unten zu sein, in dem behaglichen Zimmer, das ihr als Hausdame zustand. In diesem seltsamen Haus begegnete man überhaupt selten einem Menschen. Manchmal sah Mary einen von den Dienstboten. Aber meist hielten sich die wohl unten in der großen Küche auf, wo das blitzende Zinn und Geschirr hing. Da gab es außerdem ein großes Zimmer für die Diener. Viermal am Tag bekamen sie zu essen. Sie waren besonders munter, wenn Mrs. Medlock nicht in der Nähe war. Marys Mahlzeiten wurden pünktlich von Martha serviert. Sonst kümmerte sich keiner um das Kind. Mrs. Medlock kam jeden zweiten Tag, um nach Mary zu sehen, doch niemand fragte, womit sie sich beschäftigte oder was man für sie tun könnte. Mary dachte schließlich, dies wäre die englische Art, Kinder zu behandeln. Als Martha an einem Morgen den Kamin saubergefegt hatte und fortgegangen war, stand Mary zehn Minuten lang am Fenster. Sie überlegte den Plan, der ihr in den Sinn gekommen war, als sie das Wort Bibliothek hörte. Eigentlich machte sie sich nichts aus einer Bibliothek, weil sie sehr selten Bücher las, aber der Gedanke daran brachte ihr die hundert Zimmer mit ihren verschlossenen Türen, die in diesem Hause sein sollten, wieder in Erinnerung. Sie überlegte, ob wohl wirklich alle verschlossen wären und was sie darin finden würde, falls sie hineinginge. Und ob es tatsächlich hundert gab? Warum sollte sie nicht hineingehen und nachzählen, wieviel es sind? Es war ihr nie beigebracht worden, daß sie um Erlaubnis fragen mußte, wenn sie irgend etwas zu tun beabsichtigte. Sie kannte überhaupt keinen Respekt. Deshalb hätte sie Mrs. Medlock nicht gefragt, ob sie einen Rundgang durch das Haus machen dürfe, selbst wenn Mr. Medlock zufällig in der Nähe gewesen wäre.
    So öffnete sie also die Zimmertür, gelangte in den Flur und begann ihren Rundgang. Der Korridor war lang und mündete in einen anderen Flur. Dann ging es ein paar Stufen hinauf, und wieder fing ein Korridor an. Da waren Türen und nochmals Türen. An den Wänden hingen Bilder. Manchmal zeigten die Gemälde düstere, seltsame Landschaften, aber meist handelte es sich um Darstellungen von Menschen, Männern und Frauen in merkwürdigen, kostbaren Kostümen aus Seide und Samt. Mary befand sich jetzt in einer Galerie, in der die Wände nur mit Porträts bedeckt waren. Sie hatte sich niemals vorgestellt, daß so viele in einem einzigen Haus sein könnten. Sie ging langsam umher und starrte auf die Gesichter, die sie ebenfalls anzustarren schienen. Sie hatte das Gefühl, daß sie sich wunderten, was ein kleines Mädchen aus Indien in ihrem Haus zu suchen hatte. Manche waren Bildnisse von Kindern: kleine Mädchen in schweren seidenen Röcken, die bis auf die Füße reichten und steif abstanden, und Jungen mit Puffärmeln, Spitzenkragen und langem Haar oder mit großen Krausen um den Hals. Bei den Kinderbildern hielt Mary an und überlegte, wie die Kinder wohl hießen und wo sie jetzt wohl sein mochten und warum sie so seltsame Kleider trugen. Da war ein kleines steifes Mädchen, etwa so alt wie sie selbst. Es trug ein grünes Kleid aus Brokat und einen grünen Papagei auf der Hand.

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