Der geheime Garten
habe sie nie gesehen«, sagte Mary.
»Nein, das hast du nicht«, antwortete Martha. »Aber selbstverständlich muß man sie lieben, auch wenn man sie nie gesehen hat. Heute geh' ich nach Hause, und ich springe übers Moor vor Freude.«
»Ich liebe Dickon«, fuhr Mary fort. »Ihn habe ich auch nie gesehen.«
»Nun ja«, sagte Martha voll Stolz, »ich hab' dir gesagt, daß sogar die Vögel ihn lieben und die Kaninchen und die wilden Schafe und Ponys. Und sogar die Füchse. Ich möchte ganz gern wissen«, sagte sie und starrte Mary prüfend an, »was Dickon wohl von dir halten würde.«
»Mich mag er bestimmt nicht«, sagte Mary in ihrer alten mürrischen Art. »Niemand mag mich.«
»Magst du dich denn selbst leiden?« fragte Martha nachdrucksvoll, als wolle sie es wirklich wissen.
Mary zögerte einen Augenblick und dachte nach.
»Nun — eigentlich nicht«, antwortete sie.
Martha lächelte ein bißchen. Auch sie schien nachzudenken.
»Mutter hat das mal zu mir gesagt«, gestand sie. »Sie arbeitete gerade an ihrem Waschfaß. Ich war schlecht gelaunt und redete böse über andere. Mutter drehte sich zu mir herum und sagte: Du kleine, dumme Hexe, du! Da stehst du nun und sagst, den magst du nicht und jenen magst du nicht. Sag mal, magst du dich eigentlich seihst leiden? Ich mußte lachen, und auf einmal war ich wieder ein gutes Kind.«
Martha ging fort, nachdem sie Mary das Frühstück gebracht hatte. Sie ging fünf Meilen über das Moor zu der Hütte, um ihrer Mutter beim Waschen und Brotbacken zu helfen und um sich tüchtig zu freuen. Mary
fühlte sich einsamer als sonst, weil sie wußte, daß Martha nicht im Hause war. Sie ging, so schnell sie konnte, in den Garten. Zuerst rannte sie zehnmal um den Springbrunnen im Blumengarten. Sie zählte sorgfältig, und als sie zu rennen aufhörte, fühlte sie sich schon besser. Der Sonnenschein schien alles verwandelt zu haben. Der tiefblaue Himmel lag nicht nur über dem Moor, sondern auch über Misselthwaite. Sie hob ihr Gesicht und schaute empor. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie sich auf eines dieser kleinen, schneeweißen Wölkchen legte und fortschweben würde. Dann ging sie in den ersten Gemüsegarten. Dort fand sie Ben Weatherstaff, der mit zwei anderen Gärtnern arbeitete. Auch ihm schien das veränderte Wetter gutzutun. Er sprach Mary freiwillig an. »Der Frühling kommt«, sagte er. »Riechst du ihn?«
Mary schnüffelte. »Ich rieche was! Es ist kräftig, frisch und feucht.«
»Das ist die gute Erde«, nickte er und grub weiter. »Es macht mich glücklich, den Boden vorzubereiten, damit alles wachsen kann. Fein ist das, wenn die Zeit zum Pflanzen kommt. Im Blumengarten regt es sich in der dunklen Erde. Die Sonne weckt Leben. Nach kurzer Zeit wirst du sehen, daß die Triebe herauskommen.«
»Was kommt denn aus der Erde heraus?« fragte Mary.
»Krokusse und Schneeglöckchen und Osterblumen. Hast du die noch nie gesehen?«
»Nein«, sagte Mary. »Nach einem Regen ist in Indien gleich alles heiß und feucht und grün. In einer Nacht ist alles ganz groß gewachsen.«
»Hier geht das nicht in einer Nacht«, sagte Ben Weatherstaff. »Hier muß man warten können. Zuerst kommt eine kleine grüne Spitze aus der Erde, und am nächsten Tag vielleicht eine andere. An dem einen Tag entfaltet sich ein Blättchen und vielleicht am nächsten Tag ein anderes. Du mußt das beobachten.«
»Das werde ich tun«, versicherte Mary.
Kurz darauf hörte sie wieder das leichte Rascheln von Flügeln, und sie wußte gleich, daß das Rotkehlchen wieder da war. Es war erregt und lebhaft und hopste ganz nah an Marys Füße heran. Es legte das Köpfchen auf die Seite und sah sie so eindringlich an, daß Mary Ben Weatherstaff fragte:
»Glaubst du, daß das Vögelchen sich an mich erinnert?«
»Natürlich erinnert es sich an dich«, sagte Ben Weatherstaff fast beleidigt. »Es kennt jeden Kohlkopf im Garten und erst recht die Menschen. Es hat hier noch nie ein kleines Mädchen gesehen, und jetzt möchte es alles über dich herausfinden. Du brauchst schon gar nicht zu versuchen, irgend etwas vor ihm zu verbergen.«
»In dem Garten, in dem es lebt, sind da auch im dunklen Boden die Pflanzen am Leben?«
»Welcher Garten?« fragte Ben Weatherstaff, und sein Gesicht wurde verschlossen.
»Der Garten, wo die alten Rosensträucher stehen.« Sie konnte es nicht lassen, danach zu fragen, denn sie wollte so brennend gern etwas darüber erfahren. »Sind dort alle Blumen tot, oder
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