Der geheime Garten
fuhr sie zurück! Der Teppich verdeckte eine Tür, die offenstand und einen Korridor freigab. Durch diesen Korridor kam Mrs. Medlock mit finsterem Gesicht auf Mary zu. Sie trug ein großes Schlüsselbund in der Hand.
»Was tust du hier?« rief sie. Sie nahm Mary beim Arm und schob sie fort. »Was habe ich dir gesagt?«
»Ich bin falsch eingebogen«, sagte Mary. »Ich konnte den richtigen Weg zu meinem Zimmer nicht finden. Und ich habe jemand weinen hören.« Sie haßte Mrs. Medlock schon in diesem Augenblick, aber im nächsten haßte sie sie noch viel mehr.
»Nichts Derartiges hast du gehört!« fuhr die Hausdame sie an. »Du gehst jetzt sofort zurück in dein Zimmer!«
Sie packte Mary fester beim Arm. Halb stieß, halb zerrte sie das Mädchen den Gang entlang und weiter durch den nächsten Korridor bis in ihr Zimmer.
»Jetzt bleibst du hier, wie es dir befohlen worden ist. Wenn du nicht gehorchen kannst, werde ich dich einschließen. Der Herr hätte besser eine Erzieherin für dich besorgen sollen, was er ja eigentlich tun wollte. Du brauchst jemand, der scharf auf dich aufpaßt. Ich habe ohnehin genug zu tun.«
Sie verließ das Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
Mary hockte auf dem Teppich vor dem Kamin. Sie war bleich vor Wut. Sie weinte nicht, aber sie knirschte mit den Zähnen. »Jemand hat geweint! — Doch! — Doch!« sagte sie vor sich hin.
Sie hatte es nun schon zweimal gehört! Und sie würde herausfinden, was es war. An diesem Morgen hatte sie schon eine ganze Menge entdeckt. Sie hatte ein Gefühl wie nach einer langen Reise. Auf alle Fälle hatte sie etwas gefunden, womit sie fein spielen konnte, die elfenbeinernen Elefanten. Und sie hatte auch die graue Maus gesehen mit ihren Kinderchen — in einem Nest aus Samt.
Der Schlüssel
Zwei Tage später, als Mary erwachte, richtete sie sich sofort auf und rief Martha zu:
»Sieh dir das Moor an! Sieh doch das Moor!«
Der Regen hatte aufgehört. Nebel und graue Wolken waren wie weggefegt. Das hatte der Wind in der Nacht besorgt. Jetzt ruhte der Wind, und ein strahlender, tiefblauer Himmel wölbte sich über dem Moor. Nie, nie hatte Mary von einem so blauen Himmel auch nur geträumt. In Indien war der Himmel heiß und gleißend gewesen. Dieser hier war von einem kühlen Blau, das zu glänzen schien wie das Wasser eines unendlich tiefen Sees. Und da und dort, hoch, ganz hoch in der unendlichen Bläue, segelten winzige, schneeweiße Wölkchen. Die weite Welt des Moores lag in sanftem Blau und wirkte nicht mehr düster und schwarz oder trostlos grau.
»Ja«, sagte Martha fröhlich lachend, »der Sturm ist für eine Weile weg. So ist das immer um diese Jahreszeit. Er geht in der Nacht auf und davon und tut, als wäre er nie dagewesen und als wollte er niemals wiederkommen. Das kommt daher, weil der Frühling unterwegs ist. Er ist noch weit, aber er kommt.«
»Ich dachte, es regne vielleicht immer in England«, meinte Mary.
»Aber nein«, sagte Martha und erhob sich aus ihrem Haufen von dunklem Brennholz. »Ganz und gar nicht. Yorkshire ist der sonnigste Platz auf der Welt. Ich hab' dir schon einmal gesagt, daß ich das Moor gern mag. Natürlich mußt du warten, bis du den goldenen Ginster blühen siehst und die Heide und die Glockenblumen — wenn Schmetterlinge herumflattern und die Lerchen hochsteigen und singen. Du möchtest dann sicher auch bei Sonnenaufgang hinauslaufen und den ganzen Tag draußen bleiben wie Dickon.«
»Kann ich das?« fragte Mary besorgt und schaute durch das Fenster in die ferne Bläue. »Es ist so neu für mich. So weit entfernt!«
»Ich weiß nicht«, sagte Martha. »Ich glaube, du hast, seit du auf der Welt bist, deine Beine nie richtig benutzt. Du kannst bestimmt nicht fünf Meilen weit laufen. Bis zu unserer Hütte sind es fünf Meilen.«
»Eure Hütte möchte ich zu gern einmal sehen.«
Martha stand eine Weile und schaute Mary prüfend an, ehe sie wieder zu putzen anfing und das Kamingitter sorgfältig abrieb. Sie dachte, daß das kleine Gesicht in diesem Augenblick gar nicht mehr so mürrisch dreinschaute.
»Ich will meine Mutter mal fragen«, überlegte sie. »Mutter gehört zu den Leuten, die eigentlich immer einen Ausweg wissen. Heute habe ich meinen freien Tag, und ich gehe nach Hause. Ach, bin ich froh! Mrs. Medlock hält sehr viel von meiner Mutter. Vielleicht könnte sie mit ihr reden.«
»Ich liebe deine Mutter«, sagte Mary.
»Das kann ich mir wohl denken«, sagte Martha und putzte eifrig.
»Ich
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