Der geheime Garten
erwachen sie im Sommer auch? Sind da noch immer Rosen?«
»Frag ihn«, sagte Ben Weatherstaff und deutete mit der Schulter auf das Rotkehlchen. Robin, so nenne ich den Vogel, ist der einzige, der etwas weiß. Außer ihm war seit zehn Jahren kein lebendes Wesen mehr dort.«
Zehn Jahre, dachte Mary, das ist eine lange Zeit. Sie war vor zehn Jahren geboren worden.
In tiefen Gedanken ging sie weiter. Sie hatte angefangen, den Garten zu lieben, so wie sie Robin liebte und Dickon und Marthas Mutter. Sie mochte auch Martha gern. Für den Anfang war das eine ganze Menge für jemand, der bisher nicht gewohnt gewesen war, irgend jemand gern zu haben. Mary ging außen herum die Efeumauer entlang, die von den Spitzen der Bäume im geheimen Garten überragt wurde. Beim zweiten Rundgang ereignete sich etwas Aufregendes, und das lag an Robin.
Sie hörte ein Zirpen und Zwitschern, und als sie auf das kahle Blumenbeet sah, hopste das Rotkehlchen dort herum, tat so, als ob es eifrig Krumen aus dem Boden pickte und als ob es nicht zugeben wollte, daß es Mary gefolgt war. Doch Mary fühlte, daß Robin ihr nachgekommen war. Der Gedanke erfüllte sie mit Entzücken, sie zitterte vor Freude.
»Erinnerst du dich wirklich an mich?« flüsterte sie. »Wahrhaftig, du bist hübscher als alle anderen Vögel auf der Welt.«
Sie pfiff leise und bettelte und lockte. Das Rotkehlchen hüpfte umher, spreizte seine Federn und machte sich wichtig. Es war, als ob Robin redete. Seine rote Weste schimmerte wie Seide, er streckte die Brust heraus und war so fein und vornehm und betulich, als wollte er zeigen, wie bedeutend und tatsächlich beachtenswert ein kleines Rotkehlchen sein konnte. Unser Fräulein Mary vergaß, daß es je in seinem Leben mürrisch gewesen war. Robin ließ sie näher und näher herankommen. Sie beugte sich zu ihm hinab und versuchte, wie ein Rotkehlchen zu zwitschern. Ach, wie wunderbar, daß sie so nah an ihn kommen durfte! Sicher wußte Robin, daß sie ihn nicht berühren und nicht erschrecken würde. Er war eine so wichtige Persönlichkeit und viel, viel netter als die meisten Menschen auf dieser Welt. Mary war so glücklich, daß sie kaum zu atmen wagte. Das Blumenbeet war nicht ganz kahl. Da gab es größere und kleinere Büsche, und als Robin darüber hinwegflatterte, sah Mary, daß er sich auf einem kleinen Erdhügel niederließ. Das Häufchen Erde sah so aus, als wäre es frisch aufgeworfen worden. Robin schaute, ob sich vielleicht ein Würmchen finden ließe. Tatsächlich war der Boden frisch aufgewühlt, weil vermutlich ein Hund nach einem Maulwurf gescharrt hatte. Er hatte ein ziemlich tiefes Loch gegraben.
Mary sah interessiert hin, weil sie nicht recht wußte, wo die Erde herkam. Als sie so hinschaute, sah sie plötzlich etwas Eigenartiges in der frisch aufgeworfenen Erde. Es schien ein rostiger Ring aus Eisen oder Stahl zu sein. Als das Rotkehlchen auf einen Zweig in der Nähe flog, streckte Mary die Hand aus und hob den Ring auf.
Es war jedoch mehr als ein Ring, es war ein alter Schlüssel, der so aussah, als wäre er schon längere Zeit begraben.
Mary richtete sich auf und schaute mit fast erschrockenem Gesicht auf den Schlüssel in ihren Fingern.
»Vielleicht ist er viele Jahre lang vergraben gewesen«, sagte sie flüsternd. »Vielleicht ist es der Schlüssel zum Garten.«
Robin zeigt den Weg
Mary schaute den Schlüssel lange an. Sie wendete ihn hin und her und überlegte. Wie wir schon wissen, ist Mary ein Kind, das nicht gewohnt war, um Erlaubnis zu fragen und ältere Menschen um Rat zu bitten. Daher dachte sie, falls dies der Schlüssel zu dem geheimnisvollen Garten sein sollte und sie das Tor finden konnte, daß sie in diesen Garten gehen und nachsehen wollte, was es dort gab und was mit den Rosensträuchern geschehen war. Gerade weil er so lange verschlossen gewesen war, wollte sie den Garten sehen. Er würde sicher ganz anders sein als andere Gärten. Irgend etwas Seltsames mußte sich in einer so langen Zeit darin ereignet haben. Außerdem würde sie bestimmt jeden Tag gern hineingehen, das Tor hinter sich zuschließen, und dann konnte sie dort ein Plätzchen für sich allein haben und ganz für sich spielen. Niemand würde wissen, wo sie war. Alle würden denken, der Garten sei noch immer verschlossen und der Schlüssel liege in der Erde vergraben. Der Gedanke gefiel ihr sehr.
Da sie ganz auf sich selber angewiesen, in einem Haus mit hundert verbotenen Zimmern lebte und es nichts gab, womit sie
Weitere Kostenlose Bücher