Der geheime Garten
Dickon hierherkäme«, sagte Colin. »Ich möchte ihn gern sehen.«
»Da bin ich aber froh, daß du das sagst«, antwortete Mary, »denn —«
Ganz plötzlich wußte sie, daß dies der Augenblick war, um ihm die Wahrheit zu sagen. Colin fühlte, daß etwas auf ihn zukam. »Denn? — Was?« fragte er eifrig. Mary war so erregt, daß sie aufstand. Sie beugte sich über ihn und drückte seine Hände.
»Kann ich dir trauen?« fragte sie. »Ich habe Dickon getraut, weil die Tiere ihm trauen. Kann ich dir ganz, ganz sicher vertrauen?« Ihr Gesicht war so feierlich, daß er seine Antwort fast flüsterte.
»Ja — ja!«
»Also gut — Dickon will morgen früh kommen und dich besuchen. Und er will seine Tiere mitbringen.«
»Oh!« rief Colin entzückt.
»Aber das ist noch nicht alles«, fuhr Mary, blaß vor Erregung, fort.
»Das beste kommt noch. Es gibt ein Tor zum Garten. Ich habe es gefunden. Es ist unter dem Efeu in der Mauer.«
Wenn Colin ein gesunder, kräftiger Junge gewesen wäre, er hätte jetzt bestimmt dreimal laut »Hurra! Hurra! Hurra!« geschrien. Aber er war schwach. Seine Augen wurden größer und größer, und er rang nach Luft.
»Oh, Mary«, rief er fast schluchzend, »darf ich ihn sehen? Werde ich je hingehen? Werde ich am Leben bleiben, um ihn zu sehen?« Und er preßte ihre Hände und zog sie näher zu sich heran.
»Natürlich wirst du ihn sehen«, sagte Mary ungehalten.
»Selbstverständlich wirst du am Leben bleiben und in den Garten gehen. Sei nicht albern!« Sie war so kühl, so selbstverständlich, daß er wieder zur Vernunft kam. Er brachte es sogar fertig, über sich selbst zu lachen. Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl und erzählte von dem geheimen Garten, nicht wie er in der Phantasie aussah, sondern wie er in Wirklichkeit war. Colin vergaß seine Müdigkeit und seine Schmerzen. Er lauschte hingerissen.
»Genauso habe ich ihn mir vorgestellt«, sagte er schließlich. »Es klingt, als hättest du ihn wirklich gesehen.«
Mary zögerte ein paar Minuten, dann sprach sie kühn die Wahrheit. »Ich habe ihn gesehen. Ich bin in dem Garten gewesen. Ich habe den Schlüssel gefunden, und vor ein paar Wochen bin ich erstmals hineingegangen. Ich habe es dir nicht erzählt, weil ich nicht wußte, ob ich dir auch wirklich vertrauen konnte.«
Es ist soweit
Natürlich hatte man am Morgen nach Colins Anfall Doktor Craven benachrichtigt. Sie schickten immer nach ihm, wenn sich so etwas ereignete. Wenn er dann kam, fand er jedesmal einen bleichen, zitternden Jungen im Bett vor, übellaunig und nervös, so daß man fürchten mußte, er würde beim ersten Wort erneut in Tränen ausbrechen. Doktor Craven fürchtete und haßte diese Besuche. Deshalb blieb er diesmal bis zum Nachmittag fern.
»Wie geht es ihm?« fragte er Mrs. Medlock, als er schließlich erschien. »Eines Tages wird ihm bei einem dieser Anfälle eine Ader platzen. Der Junge ist halb irr vor Hysterie und Eigenliebe.«
»Nun, Sir«, sagte Mrs. Medlock. »Sie werden ihren Augen nicht trauen, wenn Sie ihn sehen. Das mürrische Mädchen, das fast so schlimm ist wie Colin, hat ihn wieder behext. Wie diese Mary das gemacht hat, kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Gott weiß, sie sieht nach nichts aus und spricht kaum ein Wort, aber sie hat getan, was keiner von uns wagen würde. Sie sprang ihn an wie eine kleine Katze, stampfte mit den Füßen und befahl ihm, mit dem Geschrei aufzuhören. Irgendwie überrumpelte sie ihn. Er hörte wirklich auf, und heute nachmittag — aber kommen Sie herein, Sir, und sehen Sie selbst.«
Die Szene, die sich Doktor Craven bot, als er das Zimmer betrat, setzte ihn wirklich in Erstaunen. Schon als Mrs. Medlock die Tür öffnete, hörte er Gelächter und Geplauder. Colin saß in seinem Morgenrock auf dem Sofa. Er hielt sich ganz gerade und betrachtete eines der Bücher mit den Abbildungen berühmter Gärtner. Er plauderte mit dem mürrischen Mädchen, das man im Augenblick wahrhaftig nicht als mürrisch bezeichnen konnte, denn Marys Gesicht glühte vor lauter Begeisterung.
»Von diesen langen blauen Blüten werden wir viele haben«, verkündete Colin eben. »Man nennt sie Rittersporn.«
»Dickon sagt, Rittersporn hätten wir eine Menge. Die Wurzeln sind schon im Boden.«
Dann erblickten sie Doktor Craven, und beide verstummten. Mary setzte wieder ihre mürrische Miene auf, und Colin verhielt sich abweisend.
»Ich bedaure sehr zu hören, daß du in der vergangenen Nacht wieder krank warst«,
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