Der geheime Garten
abwenden mußte, um das Zucken in ihren Mundwinkeln zu verbergen. Eine Minute lang herrschte Stille. Sogar Colin versuchte, seinen Atem anzuhalten, während Mary das Rückgrat kritisch betrachtete, so gründlich, als wäre sie der berühmte Doktor aus London.
»Da ist nicht die kleinste Beule«, sagte sie schließlich. »Nicht einmal ein Knötchen, so groß wie ein Stecknadelkopf, die Erhebungen sind Rückenwirbel. Die kannst du fühlen, weil du so dünn bist. Ich habe auch vorstehende Wirbel. Früher haben sie so weit herausgestanden wie deine. Jetzt bin ich dicker. Aber ich bin nicht so dick, daß man sie nicht mehr sieht. Wenn du also noch einmal sagst, da sei etwas, dann lache ich dich aus!«
Nur Colin ahnte, welche Wirkung die kalt hervorgebrachten Reden auf ihn ausübten.
»Ich wußte ja nicht«, wagte die Krankenschwester sich vor, »daß er sich einbildet, er habe eine Beule im Rücken. Sein Rücken ist natürlich schwach, weil er sich nie aufrichten will. Ich hätte ihm aber sagen können, daß da kein Ansatz zu einem Buckel ist.«
Colin schluckte, wandte sein Gesicht, um sie anzusehen.
»Könn — können Sie das wirklich sagen?« fragte er stotternd.
»Jawohl, Sir.«
»Siehst du«, sagte Mary und schluckte ebenfalls.
Colin drehte ihr wieder sein Gesicht zu. Man hörte nur noch seinen erregten Atem. Er lag eine Weile ganz still. Große Tränen liefen über sein Gesicht und benetzten sein Kissen. Es waren Tränen der Befreiung. Dann wandte er sich wieder der Schwester zu, sah sie an und wirkte gar nicht mehr wie ein Rayah, als er mit ihr sprach.
»Glaubst du — ich kann — vielleicht leben und großwerden?« fragte er.
Die Schwester war weder klug noch weichherzig, aber sie wußte, was der berühmte Arzt aus London gesagt hatte.
»Das ist sehr wahrscheinlich. Aber nur, wenn du tust, was dir gesagt wird, und wenn du so oft wie möglich an die frische Luft gehst.«
Colins Anfall war vorüber. Er war jetzt schwach und abgespannt. Vielleicht war er deshalb so sanft. Er streckte Mary die Hand entgegen. Auch ihre Wut war vorbei. Sie hob ihre Hand, wie um ihm auf halbem Wege entgegenzukommen.
»Ich will — ich will gern mit dir ausgehen, Mary« sagte er. »Ich werde die frische Luft nicht mehr hassen, wenn wir den —«, er erinnerte sich gerade noch rechtzeitig an den geheimen Garten und beendete den Satz mit den Worten: »Ich will gern mit dir ausgehen, wenn Dickon meinen Wagen schiebt. Ich möchte Dickon so gern kennenlernen und den Fuchs und die Krähe.«
Die Schwester machte das unordentliche Bett wieder zurecht, schüttelte und glättete die Kissen. Dann brachte sie für Colin eine Tasse Fleischbrühe. Auch Mary bekam eine. Sie freute sich sehr darüber nach all den Aufregungen. Mrs. Medlock und Martha gingen erleichtert fort. Und als alles wieder sauber und friedlich aussah, sagte die Schwester, sie werde nun auch schlafen gehen. Sie war eine gesunde junge Frau, die ihren Schlaf brauchte. Sie gähnte ganz offen, während sie Mary ansah, die sich auf der großen Fußbank neben Colins Bett niedergelassen hatte und die Hand des Jungen hielt.
»Du mußt jetzt in dein Zimmer gehen und weiterschlafen«, sagte sie. »Er wird nach einer Weile einnicken. Er ist nicht mehr so aufgeregt. Ich selbst schlafe im Nebenzimmer.«
»Soll ich dir das Schlaflied singen, das ich von meiner Ayah gelernt habe?« flüsterte Mary Colin zu.
Er drückte leicht ihre Hand, und seine müden Augen schauten sie dankbar an.
»O ja«, murmelte er, »es ist ein so sanftes Lied. Ich werde ganz schnell einschlafen.«
»Ich will ihn in den Schlaf singen«, sagte Mary zu der Pflegerin. »Sie können gehen, wenn Sie wollen.«
»Gut«, sagte die Schwester nach einem kleinen Zögern. »Wenn er in einer halben Stunde nicht schläft, mußt du mich rufen.«
»Ja«, sagte Mary.
Gleich danach ging die Schwester aus dem Zimmer. Colin griff wieder nach Marys Hand.
»Beinah hätte ich mich verraten«, sagte er, »aber ich habe noch im rechten Moment geschwiegen. Ich will jetzt nicht sprechen, ich möchte schlafen. Aber du sagst, daß du mir noch viel zu erzählen hast. Glaubst du — du könntest herausfinden, wie man in den geheimen Garten kommt?«
Mary sah in sein kleines, müdes Gesicht und in seine geschwollenen Augen. Ihr Herz wurde weich.
»Ja«, antwortete sie. »Ich glaube, ich habe ihn gefunden. Und wenn du jetzt schön schläfst, erzähle ich dir morgen alles.«
Seine Hand zitterte.
»Oh, Mary«, sagte er. »Oh, Mary!
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