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Der geheime Garten

Der geheime Garten

Titel: Der geheime Garten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frances Hodgson Burnett
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gehört. Niemand besitzt mehr als ein winziges Stück. Und manchmal sieht es aus, als seien überhaupt zu wenig Stücke da. Drum macht der einen Fehler, der sich so benimmt, als gehöre ihm die ganze Orange. Man erkennt das meist erst nach vielen Enttäuschungen. Kinder aber lernen von Kindern, daß es keinen Sinn hat, nach dem Ganzen zu greifen. Man bekommt dann vielleicht nur die Kerne, und die sind bitter. «
    »Sie ist eine erfahrene Frau«, meinte Doktor Craven, während er seinen Mantel anzog.
    »Ja, sie hat ihre besondere Art, die Dinge zu sehen«, Schloß Mrs. Medlock begeistert.
    In der folgenden Nacht schlief Colin, ohne ein einziges Mal aufzuwachen. Als er am Morgen die Augen aufschlug, blieb er ruhig liegen und lächelte still vor sich hin. Er lächelte, weil er sich so wohl fühlte. Es war schön, wach zu sein. Er drehte sich um und reckte sich vor Vergnügen. Er hatte das Gefühl, als seien die engen Bänder, mit denen er gefesselt gewesen war, von ihm abgefallen. Anstatt wie bisher dazuliegen und zu wünschen, er wäre nicht aufgewacht, war er erfüllt von den Plänen, die er gestern mit Mary geschmiedet hatte, und beschäftigt mit den Bildern, die er sich von dem Garten und von Dickon und den Tieren machte. Es war schön, Dinge zu haben, über die man nachdenken konnte. Er war noch keine zehn Minuten wach, als er eilige Schritte im Korridor hörte, und dann stand Mary in der Tür. Im nächsten Augenblick rannte sie auf das Bett zu. Sie brachte einen Hauch von frischer Morgenluft mit.
    »Du bist schon draußen gewesen! Das ist der Duft von grünen Blättern!« rief Colin.
    Sie war gerannt. Ihr Haar war verweht, sie strahlte vor Frische und hatte rote Wangen.
    »Es ist so wunderschön draußen«, sagte sie atemlos. »Es ist soweit! Er ist da! Der Frühling! Dickon hat es gesagt!«

    »Der Frühling!«
    Colin bekam Herzklopfen. Er richtete sich im Bett auf. »Mach das Fenster auf«, rief er und lachte erregt. »Vielleicht hören wir goldene Trompeten.«
    Mary lief zum Fenster und öffnete es weit. Düfte und Vogelgezwitscher drangen in das Zimmer.
    »Das ist frische Luft«, sagte sie. »Leg dich hin und atme sie tief ein. Das tut Dickon auch, wenn er langgestreckt im Moor liegt. Er sagt, er fühlt die Frische in seinen Adern, sie macht ihn stark. Er hat das Gefühl, er werde ewig leben. Atme, Colin, atme!«
    Sie wiederholte nur, was Dickon ihr gesagt hatte, aber ihre Worte beflügelten Colins Phantasie.
    »Ewig leben! Sagte er das?« fragte Colin. Er atmete die frische Luft in tiefen Zügen und fühlte, daß irgend etwas Neues und Köstliches in ihm vorging. Mary stand wieder an seinem Bett.
    »Die Blumen sprießen aus der Erde«, stieß sie hastig hervor. »Die Blätter entfalten sich, überall sind Knospen, und Dickon hat den Fuchs und die Krähe, die Eichhörnchen und ein neugeborenes Lamm mitgebracht.«
    Sie rang nach Atem. Das neugeborene Lamm hatte Dickon vor drei Tagen gefunden. Es hatte neben seiner toten Mutter in den Ginsterbüsehen im Moor gelegen. Dickon hatte es in seine Jacke gewickelt und nach Hause getragen. Sie hatten es nahe zum Feuer gelegt und ihm warme Milch zu trinken gegeben. Es war ein sanftes kleines Geschöpf mit einem kleinen, drolligen Babygesicht und mit Beinchen, die viel zu lang schienen. Dickon hatte es heute auf seinen Armen über das Moor zum Herrenhaus getragen. Die Milchflasche für das Lämmchen steckte neben einem Eichhörnchen in seiner Rocktasche.
    Mary hatte unter einem Baum gesessen und die süße Wärme in ihrem Schoß gespürt. Sie war so glücklich gewesen, daß sie nicht sprechen konnte. »Ein Lamm — ein Lamm«, dachte sie, »ein lebendiges Lamm, das wie ein Baby in meinem Schoß liegt!«
    Als Colin nun davon hörte, atmete er tief ein. In diesem Augenblick kam die Schwester herein. Sie fuhr ein wenig zusammen, als sie das offene Fenster sah. Sie hatte gar manchen Tag halberstickt in diesem Zimmer zugebracht, weil ihr Patient behauptet hatte, frische Luft mache ihn krank.
    »Bist du sicher, Master Colin, daß dir nicht zu kalt ist?« fragte sie.
    »Ganz sicher«, war die Antwort. »Frische Luft macht stark. Zum Frühstück möchte ich aufstehen und auf dem Sofa sitzen. Meine Cousine wird mit mir zusammen frühstücken.«
    Als die Schwester wegging, mußte sie sich das Lachen verbeißen. Sie bestellte Frühstück für zwei. In der Küche wollte jeder wissen, was denn »oben« eigentlich los war. Es wurde viel gelacht über den jungen »Einsiedler«, der nun

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