Der geheime Garten
sagte Doktor Craven etwas nervös.
»Jetzt geht's mir besser, viel besser«, sagte Colin und sah wieder aus wie ein Rayah. »Ich werde in ein oder zwei Tagen mit meinem Rollstuhl ausfahren, falls das Wetter gut ist, und ich hoffe, daß es gut ist. Ich brauche frische Luft.«
Doktor Craven setzte sich zu ihm, fühlte seinen Puls und betrachtete ihn neugierig. »Es muß aber sehr gutes Wetter sein, und du mußt darauf achten, daß du nicht ermüdest.«
»Frische Luft wird mich nicht ermüden«, sagte der junge Rayah.
Da derselbe Junge früher darauf bestanden hatte, daß frische Luft ihm nicht bekam, war es nicht verwunderlich, daß der Doktor erstaunt die Brauen hob.
»Ich dachte, du hast frische Luft nicht gern«, meinte er.
»Nicht, wenn ich allein bin«, antwortete der junge Rayah.
»Aber meine Cousine wird mit mir gehen.«
»Und natürlich die Krankenschwester«, schlug Doktor Craven vor.
»Nein, ich will keine Schwester dabeihaben«, sagte Colin so bestimmt, daß Mary das Bild vom echten jungen Rayah wieder einfiel, mit seinen Diamanten und Perlen und den Rubinen an den dunklen Händen, die die Diener herbeiwinkten.
»Meine Cousine kann sehr gut auf mich aufpassen. Mir ist wohl, wenn sie bei mir ist. Sie hat mich letzte Nacht geheilt. Ein sehr kräftiger Junge, den ich kenne, wird meinen Rollstuhl schieben.«
Doktor Craven fühlte sich unbehaglich. Wenn dieser unmögliche hysterische Junge tatsächlich gesundete, würde er, Doktor Craven, keine Chance haben, Misselthwaite zu erben. Aber der Arzt war kein skrupelloser Mann, er war nur schwach; und er wollte den Jungen wirklich keiner Gefahr aussetzen.
»Es muß aber ein starker und verständiger Bursche sein«, sagte er. »Und ich muß mehr über ihn wissen. Wer ist es? Wie heißt er?«
»Es ist Dickon«, sagte Mary plötzlich. Sie spürte, daß jeder, der das Moor kannte, auch Dickon kennen mußte. Und sie hatte recht. Sie sah, daß Doktor Craven erleichtert lächelte.
»Ach, Dickon«, sagte er. »Wenn es natürlich Dickon ist, dann sind wir sicher genug. Er ist so stark wie ein Moorpony, dieser Dickon. Schön, schön. Hast du gestern abend deine Bromtabletten genommen, Colin?«
»Nein«, antwortete Colin. »Zuerst wollte ich sie nicht nehmen, und dann hat Mary mich beruhigt. Sie erzählte mir mit leiser Stimme von einem Garten und vom Frühling —«
»Das klingt beruhigend«, sagte Doktor Craven, verwirrter denn je. Er warf einen Seitenblick auf Mary, die auf ihrer Fußbank saß und den Teppich anstarrte.
»Es geht dir offensichtlich besser, aber du mußt dich daran erinnern, daß —«
»Ich will mich ja gerade nicht erinnern«, unterbrach ihn der Rayah, der wieder in Colin hochkam. »Wenn ich hier so allein liege und mich erinnere, dann kommen die Schmerzen, und ich denke an Dinge, die mich zum Weinen bringen. Aber meine Cousine Mary läßt mich die Krankheit und alle meine Schmerzen vergessen, und darum heilt sie mich.«
Noch nie hatte Doktor Craven sich so bald wieder verabschieden können. Meist hatte er lange bleiben und vieles veranlassen müssen. An diesem Nachmittag verschrieb er keine Medizin und erteilte keine neuen Weisungen. Unangenehme Auftritte blieben ihm erspart. Als er die Treppe hinunterging, sah er sehr nachdenklich aus, und als er in der Bibliothek mit Mrs. Medlock sprach, spürte sie, daß er sich Verschiedenes
nicht erklären konnte.
»Also, Sir«, sagte sie, »hätten Sie so etwas geglaubt?«
»Jedenfalls befindet er sich in einem anderen Zustand, und der ist besser als der bisherige«, sagte Doktor Craven. »Man kann es nicht leugnen.«
»Ich glaube, Susan Sowerby hat recht«, überlegte Mrs. Medlock. »Ich besuchte sie gestern in ihrer Hütte, als ich auf dem Weg nach Thwaite dort vorbeikam, und wir plauderten eine Weile. Susan Sowerby und ich sind zusammen zur Schule gegangen.«
»Sie ist die beste Krankenpflegerin, die ich kenne. Wenn ich sie bei einem meiner Patienten antreffe, bin ich ziemlich sicher, daß er bald geheilt wird.«
Mrs. Medlock lächelte. Sie liebte Susan Sowerby.
»Sie hat ihre eigene Art, die Dinge zu tun«, sagte sie mit Wärme. »Ich mußte den ganzen Morgen an eine Sache denken, die sie gestern erzählt hat. Sie sagte: Wenn die Kinder streiten, halte ich ihnen manchmal eine kleine Rede. Ich erzähle ihnen, wie ich in der Schule gelernt habe, daß die Erde die Gestalt einer Orange hat, wie ich dann aber, schon bevor ich zehn Jahre alt war, herausfand, daß niemandem die ganze Frucht
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