Der geheime Garten
Ich glaube, wenn ich in den Garten dürfte, könnte ich wirklich weiterleben und großwerden. Könntest du mir nicht ganz leise erzählen, wie du dir den geheimen Garten vorstellst, wie er im Innern aussehen mag? Ich bin sicher, daß ich dann gleich einschlafe.«
»Gut«, nickte Mary, »mach die Augen zu.« Er schloß die Augen und lag ganz still. Sie nahm seine Hand und sprach sehr langsam und ganz leise.
»Ich glaube, er war so lange sich selbst überlassen, daß alles durcheinandergewachsen ist. Ich glaube, die Rosen sind geklettert und geklettert, bis sie nun von allen Zweigen und Mauern herabhängen und über den Boden kriechen wie ein sonderbarer grauer Nebel. Viele von ihnen sind gestorben, aber viele, viele leben noch! Und wenn der Sommer kommt, dann werden sie Vorhänge und Springbrunnen aus lauter Rosen bilden. Ich glaube, der Boden ist voll von Lilien, Schneeglöckchen und Primeln. Sie arbeiten sich aus der Erde hervor. Jetzt, wo es bald Frühling wird — vielleicht — vielleicht— —«
Der sanfte Ton ihrer Stimme beruhigte ihn. Und sie fuhr fort:
»Vielleicht stoßen sie vor, durch das Gras, zum Licht, vielleicht gibt es ganze Krokusbüschel, purpur und goldfarben. Vielleicht sprießen schon die Blätter, entfalten sich und — vielleicht — verwandelt sich alles Grau in Grün, und ein grüner Schleier wird sich über alles legen — über alles! Die Vögel werden kommen, um den grünen Schleier zu sehen — alles ist friedlich und still. Und vielleicht — vielleicht hat das Rotkehlchen eine Frau gefunden — und baut sein Nest...«
Colin schlief fest.
Keine Zeit zu verlieren
Natürlich wachte Mary am nächsten Morgen nicht eben früh auf. Sie schlief lange, weil sie sehr müde war. Als Martha das Frühstück brachte, berichtete sie. Colin sei zwar ruhig, aber krank und fiebrig. Das sei immer so bei ihm, wenn er einen Anfall gehabt habe. Mary aß langsam ihr Frühstück, während sie zuhörte.
»Er sagte, er möchte, daß du zu ihm kommst, sobald du kannst. Der arme Junge! Er ist viel zu sehr verwöhnt worden. Mutter sagt, zwei Dinge tun einem Kind nicht gut: immer den eigenen Willen haben und — nie einen eigenen Willen haben. Colin sagte zu mir, als ich heute in sein Zimmer kam: Bitte, frag Miß Mary, ob sie zu mir kommen und sich mit mir unterhalten will. Wollen Sie zu ihm gehen, Miß Mary?«
»Zuerst muß ich mit Dickon sprechen«, antwortete Mary. »Nein«, sagte sie dann in einer plötzlichen Anwandlung, »zuerst will ich Colin besuchen und mit ihm reden. Ich weiß, was ich ihm sagen werde.«
Sie trug ihren Hut, als sie in Colins Zimmer trat. Einen Augenblick sah er enttäuscht aus. Er lag im Bett. Sein Gesicht war zum Erbarmen blaß, und dunkle Ringe lagen um seine Augen. »Ich bin froh, daß du gekommen bist«, sagte er. »Mein Kopf tut weh, alles tut mir weh, weil ich so müde bin. Willst du ausgehen?«
Mary beugte sich über sein Bett. »Nicht für lange«, sagte sie. »Ich gehe zu Dickon, aber ich komme gleich wieder. Weißt du, Colin, es handelt sich um den Garten.« Sein Gesicht hellte sich auf und bekam ein wenig Farbe.
»Oh, das ist es!« sagte er. »Ich habe die ganze Nacht davon geträumt. Du sagtest etwas von dem Grau, das sich in Grün verwandelt, und ich träumte von einer Stelle, die ganz mit grünen Blättchen geschmückt war. Vögel hatten überall ihre Nester gebaut, und sie sahen sanft und friedlich aus. Ich werde jetzt liegenbleiben und daran denken, bis du zurückkommst.«
Fünf Minuten später traf Mary Dickon in ihrem Garten. Der Fuchs und die Krähe befanden sich wieder in Dickons Begleitung, außerdem hatte er diesmal zwei zahme Eichhörnchen mitgebracht.
»Heute morgen bin ich auf meinem Pony hergeritten«, sagte er. »Ein netter, kleiner Bursche ist das. Die zwei Eichhörnchen sind in meiner Tasche mitgekommen. Das hier heißt Nuß, und das andere heißt Schale.«
Als er Nuß sagte, sprang eines der Eichhörnchen auf seine rechte Schulter, und als er Schale sagte, hüpfte das andere auf seine linke.
Wie sie nun im Gras saßen — der Fuchs Kapitän lag zusammengerollt zu ihren Füßen, die Krähe Ruß saß schweigsam auf einem Ast, Nuß und Schale schnupperten nahe bei ihnen im Gras —, da dachte Mary, daß es kaum erträglich sei, sie alle verlassen zu müssen, aber trotzdem fing sie an zu erzählen, was sich in der vergangenen Nacht zugetragen hatte. Dickons lustiges Gesicht wurde langsam ernst. Sie fühlte, daß er mehr Mitleid mit Colin empfand
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