Der geheime Name: Roman (German Edition)
sie noch lebte. Ohne Ortsangabe.
Fina kam sich schäbig vor, aber sie brauchte einen Vorsprung und wollte auf keinen Fall gefunden werden.
Mit einem entschlossenen Nicken lief sie zurück nach unten, setzte ihren Rucksack auf und sammelte das Paket und den Brief ein.
Draußen schnallte sie den Karton auf den Gepäckträger ihres Rades und behielt den Rucksack auf dem Rücken. Sie öffnete den Kofferraum des Autos und schlug ihn wieder zu, als hätte sie tatsächlich ihre Sachen darin verstaut. Einen Moment überlegte sie, einfach das Auto zu nehmen und damit bis zum nächsten Bahnhof zu fahren. Aber wenn sie jetzt den Motor startete, würde ihre Mutter sofort wissen, dass sie sich aus dem Staub machte.
Fina sah noch einmal zu dem kleinen Steinhaus zurück, suchte die Wand nach den Fenstern ab, die zu dieser Seite zeigten: Küche und Bad unten und ihr Zimmer oben. Das Zimmer ihrer Mutter, genau wie das Wohnzimmer und das Büro führten zu den anderen Seiten hinaus.
Fina zögerte. Vielleicht sollte sie den Pass ihrer Mutter nicht gleich mitnehmen. Ihn nur zu verstecken, wäre wohl ebenso effektiv.
Kurzentschlossen warf sie ihn in den Briefkasten und schwang sich auf ihr Rad. Es war schwer beladen und wackelig, aber sie stemmte sich in die Pedale, um möglichst schnell anzufahren. Neben der Einfahrt und der rosa blühenden Oleanderhecke war sie erst einmal nicht zu sehen. Aber weiter hinten, neben dem Lavendelfeld, könnte ihre Mutter sie durch einen zufälligen Blick aus dem Fenster entdecken.
Fina fuhr, so schnell sie konnte. Erst, als sie über den Hügel hinweg war, war sie wirklich außer Sichtweite. Sie erreichte die lange Einfahrt, die zum Gut des Weinbauern führte. Zwei Briefkästen standen dort: einer, der dem Patron gehörte, und der andere von Celines Familie, die weiter hinten neben dem Gut wohnte. Fina steckte ihren Entschuldigungsbrief in den Postkasten und warf einen letzten Blick auf das Haus und die Stallungen des Weinbauern. Die weiße Camarguestute des Patrons graste davor. Zu weit entfernt, um jetzt noch einen Abstecher zu ihr zu machen.
»Au revoir, Fleur.« Zum ersten und einzigen Mal benutzte Fina den Namen des Tieres. Tränen traten in ihre Augen und verschleierten ihren letzten Blick auf das Tal, als sie wieder auf ihr Rad stieg und weiterfuhr.
Fina atmete tief ein, um wenigstens noch einmal den Duft der Kräuter in sich aufzunehmen.
Doch das Aroma des Lavendels hatte sich endgültig aus der Luft verabschiedet.
4. Kapitel
M ora blickte sich zufrieden in der Hütte um. Schnell und gründlich hatte er für Ordnung gesorgt, solange der Geheime abwesend war. Die Felle auf den Schlaflagern waren gelüftet und ausgebürstet, über der Feuerstelle kochte eine Suppe, und der Boden war gefegt. Mora hatte die Kräuterbüschel an der Decke gesichtet und die trockenen Stengel mit sauberen Händen in die Holzdosen gebröselt. Jetzt fehlte nur noch das Wasser von der Quelle, das er holen sollte, um dem Herrn die Füße zu waschen, sobald dieser zurückkehrte.
Mora griff den Holzkübel und lief aus der Hütte. Mit schnellen Schritten sprang er durch den Wald. Er spürte weder die piksenden Kiefernzweige noch die spitzen Tannennadeln unter seinen Fußsohlen. Doch die schattige Luft des Spätsommers streifte so zärtlich über seine Haut, dass es ihn zum Schaudern brachte.
Allzu deutlich war sich Mora wieder dessen bewusst, wie sehr er sich verändert hatte. Früher waren die Veränderungen beängstigend gewesen: Er war immer größer geworden, bis er den Geheimen um mehrere Köpfe überragte. Mit jedem Jahr hatte er sich tiefer vor seinem Herrn verneigen müssen.
Doch irgendwann hatte das Wachsen aufgehört. Seitdem nahmen nur noch seine Muskeln zu. Inzwischen waren sie so kräftig und ausdauernd geworden, dass er den ganzen Tag lang schwere Arbeiten verrichten konnte.
Dem Herrn missfiel seine Größe, vielleicht sogar seine Kraft – aber viel schlimmer waren die Veränderungen, die nicht zu sehen waren: Moras Haut war auf eine Weise empfindlich geworden, die nicht aufhören wollte, ihn zu quälen. Nicht die Schläge des Herrn trafen ihn härter als in seiner Kindheit, vielmehr waren es die zarten Berührungen, die seinen Körper in Aufruhr versetzten: Auch jetzt fand der lauwarme Luftzug jeden Winkel seiner unbedeckten Haut, strich über seine Arme, seinen Oberkörper, fuhr im Laufen um seine Beine, und ohne dass Mora etwas dagegen tun konnte, wuchs die Gier in seiner Körpermitte. Viel zu
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